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Abschaffel

Titel: Abschaffel
Autoren: Wilhelm Genazino
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betrachtete noch einmal die alten Leute, die aus dem Kino kamen. Offenbar kannten sie sich untereinander, und sie machten sich gerade einen schönen Nachmittag. Wahrscheinlich waren es Rentner, die ihre Zeit totschlugen, und sie waren so alt geworden, daß es ihnen egal sein konnte, wer gerade im Kino umgebracht wurde. Lachend winkten sie sich zu, als sie sich verabschiedeten.
    Je tiefer Abschaffel in die Stadt eindrang, desto mehr spürte er seine Gier auf die Stadt. Am liebsten wollte er alles zugleich sehen, die Kaufhäuser, die Unterführungen, die Brücken, das Hauptpostamt, die Rolltreppen, die Börse, die Cafeterias, die Imbiß-Stuben, natürlich das Woolworth, nach dem er sich in Sattlach sogar einmal gesehnt hatte. Mit irgend etwas mußte er anfangen, und so lief er in das erstbeste Kaufhaus. Schnell durchquerte er die Schreibwarenabteilung, damit er rasch zur Rolltreppe gelangte. Er wollte sofort in die Radio- und Fernsehabteilung, von der er wußte, daß sie in diesem Kaufhaus im vierten Stockwerk war. Wie schön und besänftigend war es, im System der Rolltreppen stehend nach oben zu fahren und mit dem Blick von unten langsam in die Stockwerke zu gleiten. Tatsächlich: Im vierten Stock erwarteten ihn Dutzende von eingeschalteten Fernsehapparaten! Nur einige wenige Verkäufer gingen ruhig zwischen den Geräten umher und blieben manchmal vor ihnen stehen. Die Art, wie sie abwartend und zweifelnd herumstanden und ein wenig bekümmert auf die Fernsehapparate schauten, glich der Art, wie Männer in Bordellen die Mädchen ansahen und nicht wußten, ob sie sich eine nehmen sollten oder nicht. Sie schienen mit dem Gedanken zu spielen, ob nicht alles überflüssig oder vielleicht sogar schädlich war, aber jeder hatte eine ewig reißende Maschine in sich, die sich immerzu von allem etwas nehmen mußte: wieder und wieder. Abschaffel setzte einen Kopfhörer auf und hörte eine halbe Minute Musik. Wollte seine Maschine einen Kopfhörer haben? Nein, seine Maschine wollte zwar Fernsehapparate und Kopfhörer sehen, aber haben wollte sie etwas anderes. Abschaffel schlenderte weiter in die Elektroabteilung. Wollte er sich nicht schon seit zwanzig Jahren eine Taschenlampe kaufen? Das wollte er tatsächlich, aber immer wenn er kurz davor war, sich tatsächlich eine zu kaufen, kam er zu dem Ergebnis, daß er keine brauchte. So war es auch heute. Als Zehnjähriger hatte er sich eine gewünscht und keine bekommen. Das war nicht wahr, und er wußte, daß es nicht wahr war. Er hatte als Jugendlicher sogar mehrere Taschenlampen besessen, aber rätselhafterweise spielte ihm seine Erinnerung manchmal das Gegenteil vor. Aber weil es nur um eine Taschenlampe ging, erlaubte Abschaffel seiner Erinnerung ausnahmsweise das falsche Spiel, und er erlaubte sich selbst, daß er es bemerkte. Wieder ging er in der Elektroabteilung umher und glaubte, er hätte nie eine Taschenlampe besessen. Wenn es sich um größere, wichtige Angelegenheiten handelte, glaubte er natürlich seiner falschen Erinnerung, weil der Schmerz, den eine falsche Erinnerung hervorbrachte, leider nicht auch falsch, sondern echt und wirklich war. Jawohl, meine Herren Verkäufer, auch erfundene oder entstellte Erinnerungen tun so weh wie die richtigen, haben Sie das jetzt endlich kapiert, dann zeigen Sie mir bitte ein paar Taschenlampen. Da lagen sie schon, wundervoll blinkende Taschenlampen, eine neben der anderen. Abschaffel nahm ein paar von ihnen in die Hand, und er spürte, wie sich sein falscher Schmerz beruhigte. O Gott, wieviel tausend Besitzdämonen allein in einem einzigen Kaufhaus ungestört herumspuken durften. Abschaffel hatte große Lust, das Museum seiner Täuschungen endgültig abzuschließen und dann den Schlüssel für immer zu verlieren. Da heulte plötzlich, nicht weit von ihm, eine laute Sirene auf. Viele Kunden, unter ihnen Abschaffel, gingen sofort zu dem Tisch hin, wo die Sirene heulte. Dort stand ein verdutzter Mann, der eine zur Besichtigung aufgebaute Alarmanlage versehentlich in Betrieb gesetzt hatte und nun nicht wußte, wie er die Anlage wieder abstellen sollte. Er drückte auf alle möglichen Knöpfe, aber die Sirene hörte nicht auf zu heulen. Die Kunden amüsierten sich. Endlich sprang ein Verkäufer heran und schaltete den Heulton ab. Der Mann machte auch noch den Fehler, sein Versehen erklären zu wollen. Er hatte gar nicht wahrgenommen, daß die heulende Sirene dies bereits erledigt hatte. Vergnügt ging Abschaffel weiter. Er wünschte
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