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Abschaffel

Titel: Abschaffel
Autoren: Wilhelm Genazino
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Neben-Ich, das ihm mächtig seine Erlebnisse streitig machte? Abschaffel setzte sich auf das Bett, hielt die Ansichtskarten in der Hand und wartete ab. Und es dauerte nicht lange, dann war sein Distanzgefühl wieder verschwunden. Jetzt betrachtete er die Ansichtskarten wie jemand, der sich ein Andenken mitgebracht hat.
    Am folgenden Morgen stand er früh auf und ging einkaufen. Zuerst lieferte er seine schmutzige Kleidung in der chemischen Reinigung ab. Auf dem Weg in den nächsten Supermarkt beschloß er, erst am folgenden Montag wieder zu arbeiten. Eine Weile hatte er geschwankt, ob er nicht schon heute die Arbeit wiederaufnehmen sollte, aber er fand dann doch, daß eine solche Überkorrektheit bei den Kollegen vielleicht nicht gut ankam. Wenn andere Angestellte ein paar Tage krank gewesen waren, fingen sie auch nicht mitten in der Woche wieder mit Arbeiten an, sondern warteten auf den nächsten Montag. Es war erst neun Uhr, als er den Supermarkt betrat. Nur wenige junge Mütter mit Kindern und ein paar Rentner hielten sich im weiten Gelände des Supermarkts auf. Die Verkäuferinnen waren noch frisch und freundlich und riefen sich scherzhafte Bemerkungen zu. Eine ganz junge Verkäuferin saß verträumt auf dem Rand einer großen Tiefkühltruhe und schnippte mit einer Handetikettiermaschine auf Dutzende von Milchtüten je ein Preisschildchen auf. So ähnlich mußten vor hundert Jahren junge Mädchen auf Brunneneinfassungen gesessen und Sommerkränze gewunden haben. Abschaffel sah erstaunt hin und nahm aus Sympathie für die Anmut der Verkäuferin gleich zwei Tüten Milch mit. Fast ebensogut gefiel ihm eine andere Verkäuferin, die unter ihrer weißen Kutte schwarze Trauerkleidung trug. Sie bediente an der Wursttheke und sah traurig umher. Unter den weißen Kuttenärmeln stießen die schwarzen Manschetten ihrer Bluse hervor. Während sie hier tagaus, tagein Wurst verkaufte, war ihr einfach jemand weggestorben. Aber das änderte ihr Leben nicht, denn sie mußte weiter Wurst verkaufen: als wäre ihr niemand gestorben. Das Leben war wieder einmal unglaublich. Abschaffel kaufte eine Menge Wurst und Salate bei ihr, weil er ihrem wässrigen Blick nahe sein wollte.
    Er kaufte viel ein. Gurken, Obst, Tomaten, Brot, Käse, Margarine, Ölsardinen, Wein, Bier, Sprudel, Schokolade. Sein Eisschrank zu Hause war leer, ebenfalls der kleine Schrank in der Küche, in dem er gewöhnlich Konserven, Teigwaren, Kaffee und dergleichen unterbrachte. Manchmal blieb erstehen und bewunderte die Helligkeit des Supermarkts. Über allen Menschen, die etwas einkauften, lag die Seligkeit der hellsten Beleuchtung. Von einem Regal nahm er eine Dose mit SAHNELEBERWURST herunter und legte sie in seinen Einkaufswagen. Eine halbe Minute später stieß er sich an dem Wort SAHNELEBERWURST und nahm die Dose noch einmal in die Hand. Tatsächlich: Sahneleberwurst. Hatte es Sahneleberwurst schon vor seiner Kur gegeben oder war sie während seiner Abwesenheit erfunden worden? (Es mußte doch irgend etwas passiert sein während seines Kuraufenthalts.) Er konnte kaum begreifen, daß es dies nun geben sollte: Sahne in der Leberwurst. Oder Leberwurst in der Sahne? Mußte nicht jedem schlecht werden, der Sahneleberwurst aß? Aber vielleicht gab es heutzutage schon jüngere Menschen, die Sahneleberwurst essen konnten. Er jedenfalls zählte nicht zu ihnen. Mißtrauisch und schroff stellte er die Dose in das Regal zurück. Verächtlich sprach er noch einmal das Wort Sahneleberwurst aus. Genau daneben standen Dosen mit Kalbsleberwurst, und er nahm eine davon. An der Eierpyramide sah er eine Rentnerin, die eine Sechser-Packung Eier vorsichtig von der Pyramide herunternahm und sie auf einem Brotregal abstellte. Dann öffnete sie die Packung und prüfte nach, ob kein Ei zerbrochen war, und dann erst stellte sie die Packung in ihrem Einkaufswagen ab. Abschaffel ging ebenfalls zur Eierpyramide und ahmte das Verhalten der Rentnerin nach. Wie herrlich und gräßlich war es, in allerkleinsten Dimensionen Sicherheit zu haben. Abschaffels Einkaufswagen war ziemlich voll. Soviel hatte er schon sehr lange nicht mehr eingekauft. Er schob den Wagen zur Kasse. Vor ihm war eine junge Mutter mit Kind an der Reihe. Das Kind saß inmitten der eingekauften Lebensmittel im Einkaufswagen, und weil es mit den Waren an die Kasse herangefahren wurde, sah es aus, als werde das Kind auch hier bezahlt und zu Hause gegessen. Das Kind faßte die Flaschen an, die an seiner Seite hochragten, spielte
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