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Abschaffel

Titel: Abschaffel
Autoren: Wilhelm Genazino
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Problem auf andere Weise ausgewichen; er hatte sich drei Kämme mit festen Standorten zugelegt: einer befand sich in seiner Schreibtischschublade, der zweite in seiner Aktentasche und der dritte zu Hause auf dem Badebord. Diese Regelung hielt Ronselt für seine Erfindung, und wann immer Abschaffel wieder einmal keinen Kamm hatte, pries Ronselt die Vorteile seiner Kammordnung. Nun überlegte Abschaffel, ob er, wenn er in ein paar Tagen die Arbeit wiederaufnahm, es genauso machen sollte wie der junge Neger. Natürlich überlegte er dies nicht wirklich. Er war nur guter Laune und beschäftigte sich mit allem möglichen, was es gar nicht gab. Er sah hinunter auf die U-Bahngleise. Hunderte von Zigarettenkippen lagen zwischen Schwellen, Schienen und Schottersteinen. Jeder Raucher, der in die U-Bahn einstieg, warf kurz vorher seinen Zigarettenrest auf die Gleise. Es waren inzwischen so viele Kippen geworden, daß die U-Bahn inzwischen vielleicht überhaupt nur noch auf Kippen fuhr.
    Ein glücklicher Einfall half Abschaffel, das Wiedersehen mit seiner Wohnung erträglich zu gestalten. Als er sein Zimmer nach sechs Wochen zum erstenmal wiedersah, fiel sein Blick zuerst auf das fettige Kissen, über dessen Anblick er sich schon seit etwa eineinhalb Jahren ärgerte. Und im Augenblick des Wiedersehens fiel ihm der Entschluß, das Kissen sofort wegzuwerfen, sonderbar leicht. So gelang es ihm, den Gegenständen der Wohnung mit einem Gefühl des Erfolgs standzuhalten. Aus der Küche holte er sich eine Plastiktüte, die für das Kissen groß genug war. Noch ehe er seine Koffer auspackte und den Mantel ablegte, trug er das alte Kissen in einer Plastiktüte aus der Wohnung. Er wollte es nicht in eine Mülltonne werfen, weil er vermeiden wollte, daß sich Hausbewohner Gedanken darüber machten, wer es wohl war, der ein so schönes Kissen einfach zum Müll gab. Abschaffel lief eine Weile in seiner Gegend umher und überlegte, wo er das Kissen lassen sollte. Er sah alle die Geschäfte wieder, die er so lange nicht gesehen hatte. Es hatte sich überhaupt nichts verändert. Er staunte die Fassaden und Schaufensterscheiben an und blickte einigen Leuten nach, die er nur vom Sehen kannte und die er als zu seiner Welt gehörig empfand, obwohl er sicher niemals ein Wort mit ihnen sprechen würde. Alles war vertraut. Seine Erfahrung, die die Dinge rasch wieder annahm, arbeitete schneller als sein Bewußtsein, das sich abzuquälen versuchte. Mühsam machte er sich klar, daß er eigentlich erwartet hatte, sein Wohnviertel nicht mehr wiederzuerkennen. Während er planlos umherging, tröstete er eigentlich seine falsche Erwartung und wies sie sanft darauf hin, daß ihr fremdes Getue nicht angebracht war. Es war, als müßte Abschaffel eine fremde, zweite Person in sich beruhigen. Er verspürte Lust, diesen inneren Vorgängen, die er nur unklar wahrnehmen konnte, weiter nachzuhängen. So lief er länger umher, als er beabsichtigt hatte, weil er es darauf ankommen lassen wollte, den fremden Herrn in sich noch ein wenig näher kennenzulernen. Aber diese zweite Person schien ein äußerst scheues Wesen zu sein. Bald sah Abschaffel denjenigen Teil von ihm, der ihm noch immer weismachen wollte, er dürfe sich hier nicht sofort wieder heimisch fühlen, wie einen lausigen Vertreter an, der ihm verdorbene Ware anbieten wollte. Da erblickte Abschaffel an einer Ecke einen großen, eisernen Müllcontainer, der zur Hälfte mit Bauschutt gefüllt war. Der Container stand vor einem Altbau; Arbeiter gingen aus dem Haus ein und aus und schleppten alte Türrahmen, verrottete Bodenbeläge und zerbrochene Glasscheiben heraus und warfen alles in den Müllcontainer. In diesem Container ließ Abschaffel sein altes Kissen verschwinden. Als er das Ding endlich los war, atmete er beinahe auf.
    Danach ging er nach Hause und packte mit ruhigen, langsamen Bewegungen die beiden Koffer aus. Mehr wollte er heute nicht mehr tun. Alle Kleidungsstücke, die er am nächsten Tag in die chemische Reinigung bringen wollte, verstaute er in einer großen Tasche. In einer kleinen Papiertüte am Boden des Koffers fand er die Ansichtskarten aus Sattlach, die er nicht verschickt hatte. Er holte sie aus der Tüte und sah sie an. Der Marktplatz, die kleine Kapelle auf dem Hügel, eine Gasse mit Fachwerkhäusern, der Fluß mit dem Damm, die Brücke, das Stadttor. Er sah die Ansichtskarten an und hatte das Gefühl, nie dort gewesen zu sein. Oder war das wieder der zweite Herr in ihm, sein
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