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Abschaffel

Titel: Abschaffel
Autoren: Wilhelm Genazino
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sich, daß es nur noch solche modernen, aber harmlosen Erfahrungen geben sollte. Er stellte sich vor, wie der Mann nach Hause kam und beim Mittagessen seiner Frau und seinen Kindern erzählte: Ich habe heute aus Versehen eine Alarmanlage ausgelöst, stellt euch das mal vor, das war vielleicht ein Ding. Und der Mann begann seine Geschichte zu erzählen und sie auszuschmücken, und er erzählte sie wahrscheinlich so oft, bis sie irgendwann in seine Biographie gehörte.
    Bevor Abschaffel das Woolworth durchstreifte, wollte er in die Hauptpost. Er hatte dort nichts zu erledigen. Er mußte sich nur die riesige Schalterhalle der Post wieder aneignen. Das war allerdings die größte Erledigung, die mit der Post jemals vor sich gehen konnte. Aber weil das niemand verstand (oder verstand es jeder?), mußte er so tun, als wollte er Briefmarken kaufen. Er stellte sich in eine Reihe und eignete sich die Post wieder an. Die Schalterhalle war groß, warm und hell. Auf den Bänken in der Mitte saßen Rentner und Ausländer. Die Frau, die vor Abschaffel in der Reihe stand, gab dem Beamten einen Brief. Der Beamte frankierte den Brief und stempelte ihn ab, und als er abgestempelt war, verlangte die Frau den Brief überraschend zurück. Das geht nicht, sagte der Beamte. Warum nicht? fragte die Frau, das ist mein Brief. Ja, schon, sagte der Beamte, aber wenn er abgestempelt ist, gehört er der Post. Aber ich bitte Sie, rief die Frau, der Post gehört kein einziger Brief. Natürlich meine ich nicht, sagte der Beamte, daß der Brief der Post wirklich gehört, aber er ist jetzt im Verantwortungsbereich der Post, weil er von der Post befördert wird, deswegen ist er ja frankiert und abgestempelt worden. Der Brief ist sozusagen schon unterwegs, schloß der Beamte. Aber Sie haben ihn doch nur in der Hand, fing die Frau wieder an. Na also, sagte der Beamte und sah Abschaffel an, weil er wohl hoffte, von ihm in seiner Fassungslosigkeit unterstützt zu werden. Was wollen Sie denn mit dem Brief machen? fragte der Beamte. Ich möchte ihn selber einwerfen, sagte die Frau. Der Beamte zögerte und sah die Frau an, und dann gab er ihr den Brief zurück. Meinetwegen, sagte er, obwohl es nicht sein darf. Die Frau nahm den Brief an sich und ging. Abschaffel verlangte nur eine einzige Briefmarke, damit er Zeit gewann. Er hatte kurz zuvor den Plan gefaßt, die Frau ein wenig zu verfolgen, weil er sehen wollte, was sie mit dem Brief machte. Er hatte Glück. Der Beamte bediente ihn rasch, und Abschaffel zahlte passend.
    Die Frau lief in Richtung Opernplatz. Vielleicht hatte sie in der Stadt nichts anderes zu erledigen als die Abstempelung ihres Briefs. Er folgte ihr im Abstand von etwa fünfundzwanzig Metern. Er überlegte, was es mit dem Brief auf sich haben könnte, und er vermutete, daß sie den Brief an sich selbst geschrieben hatte und die Abstempelung nur brauchte, weil sie eine andere Person überzeugen mußte, daß sie diesen Brief wirklich und tatsächlich bekommen hatte. Sie mußte den Brief nur noch aufreißen, dann würde er so aussehen, als hätte sie ihn am Morgen im Briefkasten gefunden. Die Frau überquerte die Neue Mainzer Straße und die Bockenheimer Landstraße und blieb dann an der Straßenbahnhaltestelle Opernplatz stehen. Offenbar wartete sie auf eine Bahn. Aus einem Automaten holte sie sich einen Fahrschein heraus. Da spürte er, daß er an der weiteren Beobachtung der Frau keine Lust mehr hatte. Es war alles bloß lächerlich. Er kehrte sofort um. Er war in einer ganz anderen Gegend gelandet. Das Woolworth, wo er eigentlich hin wollte, war in der Nähe der Konstabler Wache. Aus Verdruß sah er der Besitzerin eines Hundes, der gerade auf den Bürgersteig machte, so streng in die Augen, als sei sie es gewesen, die öffentlich gepinkelt hatte. Vor den Schaukästen einer Tageszeitung blieb er stehen und begann einen Artikel über den Prozeß gegen einen Heiratsschwindler zu lesen. Der Mann hatte sich, las Abschaffel, zur Anklage kaum geäußert. Statt dessen sagte er über die Schulter zu seinem Verteidiger: Wenn Sie nicht hinter mir sitzen würden, ginge es mir auch besser. Dieser Ausspruch des Angeklagten gefiel Abschaffel so gut, daß er die weitere Lektüre des Artikels einstellte. Diesen Satz, überlegte er, würde er gern am Montag, wenn er wieder im Büro war, allen Kollegen sagen, die hinter ihm saßen.
    Am Eingang von Woolworth hatte ein billiger Jacob seinen Stand aufgeschlagen. Abschaffel stellte sich zu den paar Leuten hin,
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