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Abgründe

Abgründe

Titel: Abgründe
Autoren: Arnaldur Indriðason
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versuchst es vielleicht später noch einmal. Die arme Guðmunda ist völlig fertig deswegen. Vor allem wegen dieses angeblichen Musikers.«
    »Mal sehen«, antwortete Sigurður Óli träge. Was geht es mich an, verdammt noch mal, wie sich diese alte Dame fühlt, dachte er, behielt das aber für sich.
    Er verabschiedete sich von seiner Mutter und versuchte, sich wieder auf das Spiel zu konzentrieren, aber das gelang ihm nicht so recht. Das Telefongespräch hatte ihn irritiert, auch wenn es nicht lange gedauert und an der Oberfläche ganz harmlos geklungen hatte. Trotzdem verspürte er Gewissensbisse. Die Art und Weise, in der seine Mutter mit ihm redete, war speziell darauf angelegt, seinen Seelenfrieden zu stören. Alles, was sie sagte, klang unterschwellig nach Vorwurf und Einmischerei. Er schlief nicht genug, also vernachlässigte er seine Gesundheit. Er hatte sich längere Zeit nicht bei ihr gemeldet und war nicht zu Besuch gekommen. Sie hatte seinen Vater erwähnt, den er offensichtlich ebenfalls vernachlässigte. Und diese verdammte Guðmunda hatte er auch immer noch am Hals, um nicht die Erwartungen seiner Mutter ein weiteres Mal zu enttäuschen. Denn selbstverständlich hatte sie ihm auch die Tatsache unterjubeln müssen, dass er es nicht einmal geschafft hatte, einen kleinen, miesen Zeitungsdieb zu schnappen, weil er sich dabei genauso ungeschickt angestellt hatte wie bei allem anderen.
    Seine Mutter hatte BWL studiert und arbeitete als Wirtschaftsberaterin in einem großen Unternehmenmit einem eindrucksvoll klingenden ausländischen Namen. Sie hatte eine leitende Position und verdiente gut. Vor einiger Zeit hatte sie sich auf eine Beziehung mit einem anderen Wirtschaftsberater eingelassen, einem Witwer, den Sigurður Óli ein paarmal bei ihr getroffen hatte. Als seine Eltern sich scheiden ließen, war Sigurður Óli noch in der Grundschule gewesen, und seine Mutter hatte das Sorgerecht für ihn erhalten. Sie war damals sehr rastlos gewesen und immer wieder in andere Stadtviertel umgezogen, sodass er als Junge nie Zeit gehabt hatte, sich irgendwo einzuleben und Freunde zu finden. Nach der Scheidung hatte sich seine Mutter mit einigen Männern eingelassen, diese Beziehungen waren jedoch nie von langer Dauer gewesen.
    Sein Vater war Installateur und hatte sehr dezidierte politische Ansichten, er war ein überzeugter Linker und hasste die Konservativen und die Kapitalisten, mit anderen Worten die Partei, die sein Sohn immer wieder aus Überzeugung wählte. Niemand hat ein stärkeres und gerechteres politisches Bewusstsein als diejenigen, die ganz links stehen, hatte der Vater seinem Sohn erklärt. Sigurður Óli hatte längst aufgehört, mit seinem Vater über Politik zu sprechen. Sigurður Ólis unerschütterliche politische Haltung führte sein Vater sowieso nur darauf zurück, dass seine Mutter ihm diesen reaktionären Quatsch eingeimpft hatte.
    Das Telefongespräch mit seiner Mutter hatte Sigurður Óli so aus dem Takt gebracht, dass ihm die Lust auf Football vergangen war. Er hatte den Fernseher ausgeschaltet und war ins Bett gegangen.
    Nun drückte er mit einem Seufzen ein weiteres Mal bei Lína auf die Klingel.
    Die Wirtschaftsberaterin und der Klempner.
    Sigurður Óli hatte nie begriffen, was seine Eltern irgendwann einmal zusammengebracht hatte. Wesentlich einfacher war es seiner Meinung nach zu verstehen, weshalb sie sich hatten scheiden lassen – obwohl weder sein Vater noch er jemals eine zufriedenstellende Erklärung dafür bekommen hatten. Auf der ganzen Welt gab es wohl kaum zwei unterschiedlichere Menschen als seine Eltern. Und er war der Spross aus dieser merkwürdigen Beziehung und noch dazu ein Einzelkind. Sigurður Óli wusste nur zu gut, dass die Erziehung seiner Mutter seine Sicht auf die Welt geprägt hatte, auch die Einstellung zu seinem Vater. Lange Zeit war es sein einziger Wunsch gewesen, bloß nicht wie sein Vater zu werden.
    Sein Vater wies ihn auch immer wieder darauf hin, dass er noch etwas anderes von seiner snobistischen Mutter hatte, nämlich seine Arroganz, seinen unverbesserlichen Hang, auf andere herabzusehen.
    Vor allem auf Versager.
    Niemand reagierte auf das Klingeln, also versuchte er es mit Klopfen. Er hatte keine Ahnung, wie er Lína und Ebbi dazu bringen sollte, ihre absurden Erpressungsversuche einzustellen, er wollte sich erst einmal anhören, was sie zu sagen hatten. Möglicherweise bildete sich dieser Schwippschwager von Patrekur das alles nur ein. Falls nicht,
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