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Abgründe

Abgründe

Titel: Abgründe
Autoren: Arnaldur Indriðason
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Lína war ihm der gestrige Abend durch den Kopf gegangen. Er hatte gemütlich auf dem Sofa gelegen und sich eine amerikanische Sportsendung angesehen, als das Telefon klingelte. Während seiner Studienzeit in Amerika hatte er zwei Sportarten lieben gelernt, die ihm bis dahin ein Buch mit sieben Siegeln gewesen waren. Beim American Football hielt er in der National Football League mit den Dallas Cowboys . Und im Baseball waren die Red Sox aus Boston seine Favoriten. Als er nach Island zurückgekehrt war, hatte er sich eine Satellitenschüssel angeschafft, um die Direktübertragungen der Spiele mitverfolgen zu können. Das war allerdings nicht immer ganz einfach, denn wegen des Zeitunterschieds fanden die Spiele nach isländischer Zeit mitten in der Nacht statt. Sigurður Óli brauchte allerdings nicht viel Schlaf, und es war kaum je vorgekommen, dass er sein morgendliches Training im Fitness-Studio wegen seiner Sportbegeisterung ausfallen lassen musste. Isländischen Sportarten wie Fußball und Handball konnte er nichts abgewinnen, seiner Meinung nach war das Niveau einfach peinlich, verglichen mit dem, was im Rest der Welt an Leistungen erbracht wurde, selbst isländische Spitzenspiele waren es kaum wert, im Fernsehen übertragen zu werden.
    Er lebte zurzeit in einer kleinen Mietwohnung auf dem Framnesvegur. Bergþóra und er hatten sich nach einigen Jahren des Zusammenlebens getrennt und allesin bestem Einvernehmen unter sich aufgeteilt, Bücher, CDs, Küchengeräte und Möbel. Er war vor allem scharf auf den Flachbildschirm gewesen, während Bergþóra sich mehr für ein Gemälde eines jungen isländischen Malers interessiert hatte, das ihnen gemeinsam geschenkt worden war. Bergþóra sah nicht viel fern, und sie hatte nie Verständnis für sein Interesse am amerikanischen Sport aufbringen können. Seine jetzige Wohnung war noch ziemlich leer, und er hatte bisher auch nicht viel unternommen, um das zu ändern. Vielleicht hoffte er im Innersten, dass die Beziehung zu Bergþóra doch nicht vollständig im Eimer war.
    Sie hatten sich zum Schluss ständig gestritten und konnten kaum noch miteinander reden, ohne aneinanderzugeraten und sich gegenseitig Vorwürfe zu machen. Sie hielt ihm vor, ihr nicht genügend Unterstützung gegeben zu haben, als sie zum zweiten Mal eine Fehlgeburt hatte. Es war ihnen nicht gelungen, Kinder zu bekommen, und sämtliche Versuche, mit den Mitteln der modernen Medizin nachzuhelfen, waren gescheitert. Als sie eine Adoption vorschlug, hatte er spontan Bedenken geäußert und ihr schließlich rundheraus erklärt, er könne sich nicht vorstellen, ein Kind aus China zu adoptieren, so wie es ihr vorschwebte.
    »Und was bleibt dann eigentlich noch?«, hatte Bergþóra gefragt.
    »Wir beide«, war seine Antwort gewesen.
    »Da bin ich mir nicht so sicher«, hatte Bergþóra entgegnet.
    Zum Schluss hatten sie sich darauf geeinigt, dass ihre Beziehung wohl einfach nicht mehr zu retten war. Sie fanden es besser, sich das einzugestehen, auch, dassbeide daran ihren Anteil hatten. Nachdem sie zu diesem Ergebnis gekommen waren, schien sich ihr Zusammenleben ein wenig zu verbessern, die Spannungen verringerten sich, und ihr Umgang war weniger feindselig, nicht mehr so hasserfüllt. Zum ersten Mal seit langer Zeit konnten sie miteinander reden, ohne dass es mit Streit, Bitterkeit und Schweigen endete.
    Er hatte auf dem Sofa vor dem großen Flachbildschirm gelegen, sich eine Orangenlimonade genehmigt und ganz versunken die Football-Übertragung mitverfolgt, als plötzlich das Telefon klingelte. Er sah auf die Uhr, es war schon nach Mitternacht. Er blickte auf das Display und nahm das Gespräch an.
    »Hallo«, sagte er.
    »Warst du schon im Bett?«, fragte seine Mutter.
    »Nein.«
    »Du schläfst zu wenig, du solltest schon längst im Bett sein.«
    »Dann hättest du mich aber mit deinem Anruf geweckt.«
    »Was, ist es schon so spät? Ich dachte, du würdest vielleicht anrufen. Hast du etwas von deinem Vater gehört?«
    »Nein«, sagte Sigurður Óli, dessen Aufmerksamkeit voll und ganz auf den Bildschirm gerichtet war, und er wusste ganz genau, dass seine Mutter ebenfalls ganz genau wusste, wie spät es war.
    »Du weißt, dass sein Geburtstag näher rückt.«
    »Das habe ich nicht vergessen.«
    »Kommst du morgen vorbei?«
    »Im Augenblick ist viel los bei mir, ich sehe zu, was sich machen lässt. Ich melde mich.«
    »Schade, dass du den Dieb nicht erwischt hast.«
    »Ja, hat nicht geklappt.«
    »Du
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