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Abgründe

Abgründe

Titel: Abgründe
Autoren: Arnaldur Indriðason
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geblieben, um zu vermeiden, dass Passanten und Anwohner auf ihn aufmerksam wurden und womöglich sogar die Polizei verständigten. Das durfte auf gar keinen Fall geschehen, denn er war schon mehr als einmal mit dem Gesetz in Konflikt geraten.
    Die meisten Häuser in dieser Gegend waren sich sehr ähnlich, doch an einigen Stellen standen auch neuere Häuser, einige moderne, aber auch andere, die sich gut in das ursprüngliche Straßenbild einfügten; niedrige und bescheidene ein-oder zweigeschossige Holzhäuser, von außen mit Wellblech verkleidet, darunter ein betonierter Keller. Einige sahen gepflegt aus, andere waren genauso heruntergekommen wie das Haus des Scheusals. Das Dach war in einem erbärmlichen Zustand, an der Straßenseite fehlte die Dachrinne, und von der hellblauen Farbe war fast nichts mehr übrig. Sowohl am Dach als auch an den Hauswänden breitetensich riesige Rostflecken aus. In der Etage über der Kellerwohnung schien niemand zu leben. Die Fenster waren immer zugezogen, und er hatte nie gesehen, dass dort jemand aus-und einging.
    Das Scheusal lebte nach festen Gewohnheiten. Die Jahre hatten ihn schwer gezeichnet, er musste wohl schon auf die achtzig zugehen, er ging steifbeinig und hielt sich krumm. Das graue Haar guckte strähnig und zottelig unter der Wollmütze hervor. Sein Wintermantel war alt und abgewetzt. Nichts an ihm erinnerte an die alten Zeiten. Jeden zweiten Tag ging er morgens früh in die Badeanstalt, manchmal so früh, dass er vor dem Eingang warten musste, bis geöffnet wurde. Wahrscheinlich hatte er in der Nacht nicht geschlafen, denn nach dem Besuch in der Badeanstalt begab er sich nach Hause und rührte sich anschließend den ganzen Tag nicht. Gegen Abend verließ er das Haus erneut, um in einem Lebensmittelgeschäft in der Nähe Milch, Brot und andere Lebensmittel einzukaufen. Manchmal, aber nicht sehr oft, stattete er dem Alkoholladen einen Besuch ab. Unterwegs grüßte er niemanden, sprach mit niemandem und erledigte die Einkäufe mit einem Minimum an Zeitaufwand. Besuch erhielt er nie. Hin und wieder bekam er Post. Abends hielt er sich meist zu Hause auf, nur zwei Mal hatte er einen längeren Spaziergang am Meer entlang unternommen und war dann durch die Weststadt und das Þingholt-Viertel wieder nach Hause gegangen.
    Beim zweiten Mal hatte es unterwegs angefangen zu regnen, und im Schutz der Dunkelheit hatte er sich im Garten eines alten, zweistöckigen Hauses untergestellt, wo er in die erleuchteten Fenster im Souterrain starrteund beobachtete, wie die Leute zu Bett gingen. Wenn die Lichter ausgeschaltet waren, schlich sich der Widerling zum Kinderzimmerfenster und starrte lange hinein, bevor er sich wieder auf den Weg zur Grettisgata machte.
    In dieser Nacht hatte er lange im strömenden Regen vor dem Haus in der Grettisgata gestanden und auf die Eingangstür zum Keller gestarrt. Er hatte das Gefühl gehabt, für alle unschuldigen Kinder von Reykjavík Wache stehen zu müssen.

Fünf
    Als die Dämmerung hereingebrochen und die Stadt zur Ruhe gekommen war, klingelte Sigurður Óli bei der mutmaßlichen Erpresserin Sigurlína Þorgrímsdóttir an, die immer nur Lína genannt wurde. Er wollte das Gespräch mit ihr hinter sich bringen. Sie und ihr Mann Ebbi, mit vollem Namen Ebeneser, wohnten in einem Reihenhaus im Ostteil der Stadt, nicht weit vom Laugarás-Kino. Sigurður Óli blickte zu dem Kino hinüber, in dem er etliche gute Filme gesehen hatte. In seinen jüngeren Jahren war er häufig ins Kino gegangen, aber er konnte sich keinen der Filme, die er gesehen hatte, ins Gedächtnis rufen, er vergaß die Handlung immer sofort. Trotzdem nahm das Laugarás-Kino einen besonderen Platz in seinen Erinnerungen ein, und zwar wegen eines unvergesslichen Kinobesuchs während seiner Zeit auf dem Gymnasium. Er hatte damals zum ersten Mal eine Schulkameradin ins Kino eingeladen. Sie hatte sich dann aber in jemand anderen verliebt, und so war ihm nur die Erinnerung an einen langen Kuss im Auto vor ihrem Elternhaus geblieben.
    Im Grunde genommen hatte er nicht die geringste Ahnung, wie er Hermann und seiner Frau helfen konnte. Er hatte sich vorgenommen, Lína und Ebbi gehörig den Marsch zu blasen und ihnen polizeilicheMaßnahmen anzudrohen. Vielleicht würde das ja reichen. Nach dem zu urteilen, was Hermann gesagt hatte, schienen sie nicht sonderlich routiniert in der Art von Erpressung zu sein, auf die sie sich verlegt hatten, es war ja auch ein eher seltenes Metier.
    Auf dem Weg zu
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