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Abgründe

Abgründe

Titel: Abgründe
Autoren: Arnaldur Indriðason
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konnte er die beiden vielleicht mit Drohungen von ihrem Vorhaben abbringen. Sigurður Óli konnte ziemlich massiv werden, wenn es erforderlich war.
    Er hatte kaum Zeit, darüber nachzudenken, denn die Tür öffnete sich einen Spalt weit, als er anklopfte. Zögernd rief Sigurður Óli ins Haus hinein, ob jemand zu Hause wäre, erhielt aber keine Antwort. Er hätte sich jetzt einfach umdrehen und weggehen können, aber irgendetwas zog ihn in das Haus, woran immer es liegen mochte – an seiner angeborenen Neugierde oder seiner angeborenen Zerstreutheit.
    »Hallo!«, rief er, während er einen kurzen Flur betrat, der an der Küche vorbei ins Wohnzimmer führte. An der Wand neben der Küche hing ein kleines Aquarell schief, und er rückte es gerade.
    Das Haus lag völlig im Dunkeln, aber in der schummrigen Beleuchtung, die von den Straßenlaternen draußen hereindrang, sah Sigurður Óli, dass im Wohnzimmer ein wüstes Chaos herrschte. Lampen und Vasen waren zerbrochen und lagen auf dem Boden, neben der Deckenlampe und den Bildern, die an den Wänden gehangen haben mussten.
    Und mitten in diesem Chaos lag ein Frauenkörper auf dem Boden, blutüberströmt und mit einer klaffenden Wunde am Kopf.
    Er hielt es für wahrscheinlich, dass es sich um Lína handelte.

Sechs
    Er versuchte festzustellen, ob sie noch irgendwelche Lebenszeichen von sich gab, was anscheinend aber nicht der Fall war. Allerdings war er kein Experte, was den Grenzbereich zwischen Leben und Tod betraf, und hatte bereits einen Krankenwagen bestellt. Auf einmal ging ihm auf, dass er wohl in irgendeiner Weise seine Anwesenheit im Haus erklären musste. Eine Weile spielte er mit dem Gedanken, sich irgendeine glaubhafte Lüge auszudenken, einen anonymen Anruf oder so etwas, kam aber schließlich zu dem Ergebnis, dass es wohl besser sein würde, einfach die Wahrheit zu sagen. Dass Freunde ihn überredet hatten, sich wegen eines dümmlichen Erpressungsversuchs einzuschalten. Patrekur und seine Frau und Súsannas Schwester mit ihren politischen Ambitionen hätte er liebend gern aus der Sache herausgehalten, aber ihm war klar, dass das schwierig werden würde. Sobald die Ermittlung ihren Lauf nahm, würden sich deren Verbindungen zu Lína und Ebbi unweigerlich herausstellen. Und etwas anderes war ebenfalls sonnenklar: In dem Moment, in dem Sigurður Óli Rechenschaft darüber ablegen musste, weshalb er dieses Haus betreten hatte, würde er von der Ermittlung ausgeschlossen werden.
    All das ging ihm durch den Kopf, während er auf denKrankenwagen und die Polizei wartete. Auf den ersten Blick konnte er keinerlei Anzeichen für einen Einbruch feststellen. Der Täter hatte offensichtlich das Haus durch die Tür betreten und verlassen und sich nicht die Mühe gemacht, sie ordentlich zu schließen. Es war denkbar, dass die Nachbarn in den umliegenden Häusern etwas gehört oder gesehen hatten, ein Auto oder jemanden, der mit dem Vorsatz gekommen war, Línas Wohnung zu demolieren und sie zu überfallen.
    Er bückte sich gerade ein weiteres Mal zu Lína hinunter, als er ein Rascheln hörte und aus den Augenwinkeln eine Bewegung wahrnahm. Trotz der Dunkelheit sah er, wie jemand mit etwas, was er für eine Baseballkeule hielt, zum Schlag ausholte. Blitzschnell zog er den Kopf ein, sodass der Hieb auf seiner Schulter niederging und ihn zu Boden streckte. Als er sich wieder aufgerappelt hatte, war der Angreifer längst zur Tür hinaus.
    Sigurður Óli rannte nach draußen und sah den Mann nach rechts laufen. Er nahm die Verfolgung auf, fischte das Handy aus der Tasche und bat um Verstärkung. Der Abstand zwischen ihnen vergrößerte sich. Der Mann legte ein Affentempo vor, er sprang in einen Garten und verschwand hinter der Hausecke. Sigurður Óli sprintete hinter ihm her, schwang sich über den Zaun, rannte um die Ecke und in den Nachbargarten, dann quer über die Straße und wieder in einen Garten hinein. Dort kam ihm aber eine Schubkarre in die Quere, er stolperte, stürzte in die Johannisbeersträucher und wälzte sich in seinem neuen Mantel im Dreck. Als er wieder aufgestanden war, musste er sich neu orientieren, bevor er die Verfolgungsjagd wieder aufnehmen konnte. Der Mann hatte inzwischen einen beträchtlichen Vorsprung, rannte über den Kleppsvegur und Sæbraut und nahm Kurs auf die psychiatrische Klinik Kleppur.
    Unter Aufbietung aller Kräfte setzte Sigurður Óli ihm nach und rannte quer über die vierspurige Sæbraut. Autofahrer bremsten scharf und hupten wild.
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