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Abgang ist allerwärts

Abgang ist allerwärts

Titel: Abgang ist allerwärts
Autoren: R Kuhnert
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sich die Nacht um die Ohren schlagen, da würde er mit der Kalaschnikow draufhalten. Und ich hatte sehen können, dass ihm das Nachahmen der knatternden Maschinenpistole regelrecht Freude bereitet hatte. So betrachtet war das Festhalten von Flüchtlingen die harmlosere Variante. Was, wenn ich im Dorf danach fragen würde? Hätten dann wieder alle nichts davon gewusst ? Gisbert bemerkte meine Unschlüssigkeit. Und als würde er mir die Entscheidung erleichtern wollen, sagte er betont langsam: »Du weißt, ich bin alles andere als religiös, aber in letzter Zeit fällt mir immer wieder der Bibelspruch ein: Wer ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein.«
XXX.
    H ildegard konnte schon damals gut kochen. Diesmal hatte sie die Rehkeule auf provenzalische Art zubereitet. Bei ihrer Küche wunderte es nicht, dass auch Gisbert bereits einen kleinen Bauchansatz zeigte. Ich hatte mich für den Bordeaux entschieden und wir tranken ein weiteres Mal auf unser Wiedersehen. Während des Essens wechselten wir nicht viele Worte. Jeder hing seinen Gedanken nach.
    »Wenn du Lust hast, komm doch nach deiner Rückkehr in die Vergangenheit noch mal vorbei«, schlug Gisbert vor.
    »Du meinst, wenn ich die Gegenwart verkraftet habe?«, entgegnete ich.
    »Neugier, du kennst mich doch. Deshalb hab ich ja auch damals an deine Tür geklopft.«
    »Wenn du willst, kannst du auch bei uns übernachten.« Hildegard räumte den Tisch ab und fragte: »Oder hast du nur ein 24-Stunden-Visum?«
    »Nicht einmal das, ich muss als West-Deutscher um Mitternacht zurück sein«, nahm ich ihren ironischen Ton auf. Dennoch brachte es die Erinnerung an die Mauerzeit zurück. Warum sollte ich nicht eine Nacht bleiben? Dann hätten wir noch den ganzen Abend und es gab so vieles, über das wir noch nicht gesprochen hatten.
    »Also gut, ich nehme Euer Angebot an, eine Zahnbürste hab ich immer dabei, man weiß ja nie…«
    Als ich in mein Auto stieg und die schmale Straße am See entlang fuhr, standen Hildegard und Gisbert auf der Terrasse und sahen mir nach, bis ich in die Straße einbog, die in das benachbarte Dorf führte. Von der Landstraße aus sah Hohenfeld noch genau so aus, wie ich es in Erinnerung hatte. Der hölzerne Turm der kleinen Feldsteinkirche war weithin sichtbar, auch der dominierende Bau des Schlosses. Ich bog in die Dorfstraße ein und fuhr im Schritttempo über das nach wie vor holprige Kopfsteinpflaster. Auch daran erinnerte ich mich. Die ersten Häuser standen anscheinend unverändert. Allerdings deuteten bemooste Dachziegel und verwitterter Putz darauf hin, dass man sie ihrem Schicksal überlassen hatte. Zwischendrin ab und zu ein Haus mit frischer Farbe, neu gedecktem Dach und fremd wirkenden Verbundglasfenstern. Das in den Schlosspark gesetzte sowjetische Ehrenmal leuchtete noch immer leidlich weiß gestrichen zwischen den Bäumen hervor, nur der rote Stern auf der Spitze des Betonobelisks war abgebrochen und hing an der Vorderseite herab, so dass die kyrillischen Schriftzüge halb verdeckt wurden. Der Dorfplatz, auf dem zu meiner Zeit die Kittelschürzen-Frauen die Neuigkeiten ausgetauscht hatten, war von einer mächtigen Mauer durchschnitten, die jetzt jeden Zugang zum Schlosshof verwehrte. Das war neu.
    Das lang gestreckte Haus mit de Kneip ´ wirkte verlassen.
    Auch das, in dem Anita einst nackt auf dem Tisch getanzt hatte, war nicht mehr bewohnt. Das Haus von Edda mit der Poststelle und das von Erwin, an dessen blaue Leinenmütze ich mich noch gut erinnerte, auch sie wirkten leblos. Sogar das von Gottfried, dem Maurer. Alle blickten mit leeren, dunklen Fenstern auf die staubige Dorfstraße. Nur die Feldsteinkirche gegenüber, mit dem hölzernen Turm, schien von der Altersschwäche kuriert worden zu sein, zumindest leuchtete wie zum Beweis frisch verfugtes Mauerwerk. Und dann sah ich am Ende des Dorfes mein Haus, das ja nicht mehr mein Haus war. Ich parkte den Wagen und lief die letzten hundert Meter zu Fuß. Die vergangenen Jahrzehnte hatten sich im Mauerwerk verbissen und sichtbare Schäden hinterlassen. Der ehemals leuchtende Außenanstrich, auf den ich seinerzeit so stolz gewesen war, hatte sich in ein schmutziges Weiß gewandelt und an vielen Stellen war die Farbe ganz abgewaschen, so dass der bröckelnde Putz wieder zum Vorschein kam. Einige Fensterläden hingen schief in den Angeln. Im Sockelgestein nagte wie Raureif die Feuchtigkeit. Nur die Natur war unbeirrt ihren Weg gegangen: Die beiden Apfelbäume vor dem Haus waren inzwischen
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