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Abgang ist allerwärts

Abgang ist allerwärts

Titel: Abgang ist allerwärts
Autoren: R Kuhnert
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Situationen auch von Vorteil sein konnte. Genau drei Wochen nach meinem Besuch bei Wiesheim öffnete sich am Bahnhof Friedrichstraße die elektrisch verriegelte Schleuse für mich und entließ mich für alle Zeit ohne Wiederkehr in den Westen.
XXIX.
    I m Zeitraffer hatte ich Gisbert und Hildegard das Wichtigste erzählt, was mir in den darauf folgenden Jahrzehnten an Gutem und weniger Gutem auf der anderen Seite der Mauer widerfahren war. Von dem schweren Anfang, nachdem ich ohne große Erwartungen, aber doch mit einer gewissen Hoffnung ein neues Leben in dem anderen Teil Deutschlands begonnen hatte. Dieser westlichen Hälfte, die bis zum Fall der Mauer behauptete, ein Ganzes zu sein. Selbst in diesem Anspruch hatten sich die beiden Deutschländer geähnelt. Ich war mit meinem Bericht am Ende und lehnte mich erschöpft zurück. Gisbert und Hildegard hatten mir die ganze Zeit über gespannt zugehört. Hildegard holte tief Luft und schüttelte nachdenklich den Kopf. Gisbert goss mir ein weiteres Glas Prosecco ein und sagte nur: »Das klingt ja wirklich wie eine Fahrt mit der Achterbahn. Hier lief alles weniger aufregend, allerdings einiges ist schon passiert. Kannst du dich noch an Kanzog erinnern?«
    »Der sich mit seiner närrischen Büttenrede in Teufels Küche gebracht hatte, ja, natürlich.«
    »Er und Schliemann, du weißt schon, der Ökonom.«
    Ich nickte. »War das nicht alles im Sande verlaufen? Wie hattest du damals gesagt: Schweigen im Walde.«
    Gisbert wiegte seinen Kopf hin und her.
    »Nicht ganz. Schliemann ist dann doch entlassen worden und hat als Buchhalter beim Konsum gearbeitet. Inzwischen ist er in die Politik gegangen. Da musste er sich durchleuchten lassen. Und was glaubst du, wen er in seinen Akten als IM Narr gefunden hat?«
    Ich ahnte, wen er meinte. Deshalb war Kanzog also Lehrer geblieben. Das hatten sie als Preis von ihm gefordert und er hatte ihn bezahlt.
    »Seine Frau hat sich, als sie es erfahren hat, sofort von ihm getrennt, seine Tochter hat jeden Kontakt zu ihm abgebrochen und er wurde aus dem Schuldienst entlassen. Eine Weile hat er von der Sozialhilfe gelebt, bis er sich im vergangenen Jahr in der Turnhalle der Schule aufgehängt hat. Ausgesucht hat er sich dazu einen ganz besonderen Tag: Den neunten November.«
    So wird es wenigstens für einige in dem kleinen Ort ein Tag der Erinnerung bleiben, dachte ich.
    »Und was ist aus Breihahn geworden?« Den eigenartigen Namen hatte ich bis heute nicht vergessen.
    »Der? Der hatte ja nur seine Pflicht getan. Er ist die Treppe ein paar Stufen rauf gefallen, hat das Wort Wende ganz wörtlich genommen, sich ein paar Mal hin und her gewendet und sitzt jetzt in der Kreisstadt im mittleren Polizeidienst.«
    Hildegard stand auf und bemerkte lakonisch: »Fett schwimmt eben immer oben. Apropos: Ich seh besser mal nach dem Braten.« Sie verschwand in der Küche.
    »Ist zwar schon eine Weile her, aber was wird jetzt mit deinem Haus?«, fragte Gisbert unvermittelt.
    »Dann steht es also noch« sagte ich nachdenklich.
    »Natürlich!« Gisbert sah mich etwas irritiert an.
    »Die Frage ist: Willst du´s wiederhaben? Du hättest sicher gute Chancen. Weißt du, dass jetzt der Norbert drin wohnt? Dass den der Alkohol noch nicht geholt hat, grenzt an ein Wunder. Lebt mit einer Frau hier aus unserem Ort zusammen. Und hat plötzlich drei Kinder. Die hat sie mitgebracht.«
    Ich hob abwehrend meine Hände. »Das mit dem Haus und dem Dorf war in einem anderen Leben.« Ich nannte es nun auch ihm gegenüber so. Gisbert sah mich zuerst ungläubig an, dann nickte er ernst. »Kann ich verstehen. In der Zwischenzeit sind ja nicht nur hier, sondern auch in deinem Dorf ein paar Dinge passiert, von denen du nichts wissen kannst. Die Mauer ist zwar schon seit vielen Jahren gefallen, viel länger, als man manchmal vermutet, aber manches kann man nicht so schnell vergessen, auch in zehn oder zwanzig Jahren nicht. In jenem letzten Sommer, als es zuende ging mit der real existierenden Herrlichkeit, da sind einige Städter durch den Wald über die Grenze nach Polen geflüchtet.« Er bemerkte meinen irritierten Blick und lachte. »Ich weiß, das wurde immer als Witz gehandelt: Wer versucht, in Richtung Westen abzuhauen, kommt in den Knast, wer nach Polen will, kommt in die Klapsmühle. Aber Polen war ja nur die Zwischenstation. Die da über die Grenze machten, wollten in die westdeutsche Botschaft in Warschau, um dann irgendwann in Richtung Westen auszureisen, so wie´s dann in
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