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Abenteurer sucht Frau fürs Leben

Abenteurer sucht Frau fürs Leben

Titel: Abenteurer sucht Frau fürs Leben
Autoren: NINA HARRINGTON
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Kyle?“
    Er ließ ihre Hand los, strich sich durch das Haar und ging zum Tisch. Dort nahm er das Foto von ihrer lachenden Mutter mit den fröhlichen Kindern zur Hand und strich mit einem Finger darüber. „Wir hatten mehrere harte Wochen hinter uns. Wir waren alle erschöpft.“ Er legte den Abzug zurück und drehte sich halb zu Lili um. „Ruth hatte zugesagt, dass wir jedes Dorf ein Mal pro Woche aufsuchen. Also wurde ein Zeitplan aufgestellt. Jeden Dienstag sollte ich mit dem Einsatzwagen unterwegs sein, und Ruth sollte dafür in der Klinik bleiben.“
    Er warf ihr einen Seitenblick zu und starrte dann auf das Foto. „Du weißt ja, wie sie war. Wenn sie ein Versprechen gegeben hatte, gab es kein Wenn und Aber. Ein paar Monate lang funktionierte auch alles prima, aber dann rückten die Gefechte näher, und wir bekamen jeden Tag neue Verwundete herein. Alle Betten in der Klinik waren besetzt, und die Patienten lagen sogar auf den Korridoren. Es war furchtbar!“ Er verstummte.
    „Sprich weiter“, flüsterte sie.
    „Lili, ich …“
    Sie trat zu ihm und legte ihm beide Hände flach auf die Brust. „Mach einfach die Augen zu und sag es mir. Du schaffst es. Ich habe keine Angst vor der Wahrheit.“
    Er atmete tief durch. „Es war ein Albtraum. Du weißt ja, wie unerfahren ich war. Auf der Universität wird einem nicht beigebracht, mit solchen Situationen umzugehen – das geht ja auch gar nicht. Die Verwundeten wurden von ihren Angehörigen auf Eseln und Holzkarren gebracht. Den ganzen Tag und dann die ganze Nacht lang. Der Menschenstrom nahm kein Ende. Die Rettungssanitäter leisteten erstaunliche Arbeit, aber Ruth und ich waren die einzigen Chirurgen.“
    Kyle zog Lili näher an sich und lehnte seine Stirn an ihre. „Wir haben sechsunddreißig Stunden nonstop gearbeitet! Ich bin kurz vor dem Morgengrauen aus dem OP gekommen. Ruth hat darauf bestanden, dass ich etwas schlafe, damit ich nicht noch umfalle.“
    Er hob den Kopf und blickte zur Decke hinauf. Tränen glitzerten in seinen Augen. „Als ich wieder aus meinem Zelt gekommen bin, ist sie gerade in unseren klapprigen Einsatzwagen gestiegen. Ich habe ihr zugerufen, dass sie auf mich warten soll, aber sie hat mir nur zugewinkt und ist losgerast.“ Seine Stimme versagte. Der Adamsapfel hüpfte, als er die Tränen und den Kummer hinunterschluckte. „Es war das letzte Mal, dass ich sie gesehen habe.“
    „Oh, Kyle“, brachte Lili erstickt hervor. Dann sank sie wortlos an seine warme breite Brust.
    Wie lange sie so dastanden, wusste sie nicht. Schließlich brach er das bedrückte Schweigen. Er berührte mit den Lippen ihr Haar und sagte: „Ich erzähle dir das nicht, um dein Mitleid zu erregen. Du bist diejenige, die Mitgefühl verdient. Du und dein Vater waren es, die zurückgelassen wurden. Trotzdem, hätte Ruth doch bloß ein paar Minuten gewartet! Du hast ja keine Ahnung, wie schuldig ich mich fühle, wann immer ich daran denke.“
    Ein kalter Schauer rann ihr über den Rücken. „Warum solltest du dich schuldig fühlen? Welchen Unterschied hätten ein paar Minuten gemacht? Sie ist bei der Tätigkeit gestorben, die sie geliebt hat.“
    Er legte ihr eine Hand um den Nacken und drückte ihren Kopf an sich, wie um sie vor dem Schlag zu schützen, der ihr bevorstand. „Es war ein Dienstag. Ich hätte den Einsatzwagen fahren sollen, nicht deine Mutter. Ich hätte derjenige sein sollen, der an jenem Tag getötet wird.“
    Sie stieß sich von ihm ab, lehnte sich taumelnd an den Tisch und rang mühsam nach Atem. „Ist das alles, was du mir sagen willst? Dass es ein Dienstag war und dass du an der Reihe warst, den Einsatzwagen zu fahren?“ Ihre Stimme klang tonlos und fremd.
    „Ja. Ruth hat meinen Platz eingenommen und der Krankenschwester aufgetragen, mich weiterschlafen zu lassen. Lili, es tut mir so leid.“ Er wollte ihre Hände nehmen, doch sie wich vor ihm zurück. „Kannst du dir vorstellen, wie oft ich mich frage, was gewesen wäre, wenn …? Was, wenn ich nicht vor Erschöpfung eingeschlafen wäre? Was, wenn Ruth noch zehn Minuten gewartet hätte oder nicht so starrsinnig gewesen wäre? Was, wenn wir beim Militär nachgefragt hätten, ob jemand etwas von Landminen auf dem Feldweg weiß?“
    „Hör auf damit! Ich will nichts mehr davon hören!“ Sie schlang die Arme um sich selbst, um ihren heftig zitternden Körper zu beruhigen. „Ist das der wahre Grund, weshalb du jetzt hier bist? Hast du deswegen zugestimmt, dieses Buch zu schreiben,
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