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99 Särge: Roman (German Edition)

99 Särge: Roman (German Edition)

Titel: 99 Särge: Roman (German Edition)
Autoren: Xiaolong Qiu
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aus einem Ringbuch mit austauschbaren Seiten bestand. Der Becher war vermutlich noch derselbe, aus dem der Alte Bao getrunken hatte.
    Während Chen zurückwinkte, hörte er Schritte näher kommen. Er drehte sich um und erkannte An, die neu gewählte Verbandsvorsitzende.
    An war Mitte vierzig, von durchschnittlicher Größe und dunklem Teint; sie hatte ein mit Preisen ausgezeichnetes Buch über eine bedauernswerte Frau geschrieben, die im gnadenlos sich wandelnden Shanghai unter die Räder gekommen war. Der Roman war auch verfilmt worden, doch seither hatte die Autorin nichts Vergleichbares mehr vorgelegt. Das war auch nicht verwunderlich, überlegte Chen. In ihrer neuen Funktion genoss sie die Privilegien eines Parteikaders im Ministerrang und würde daher wohl kaum etwas zu Papier bringen, was diese Position gefährden könnte.
    »Parteisekretär Chen«, sagte sie scherzhaft. Es war üblich, dass man der Anrede den Titel hinzufügte, dabei aber das »Vize« wegließ.
    »Also bitte, An«, entgegnete er. »Es ist mir schon peinlich genug, als Polizeibeamter einen solchen Vortrag zu hören, geschweige denn als Vizeparteisekretär des Präsidiums.«
    »Darüber müssen wir jetzt nicht reden, Chen. Schon während des Studiums wolltest du Dichter werden und nicht Polizist. Dass man dir nach dem Abschluss diesen Posten zugeteilt hat, wissen wir doch alle. Trotzdem hast du viel erreicht in deinem Beruf. Auch darüber brauchen wir nicht zu reden.«
    Was sie mit ihm besprechen wollte, war vielmehr eine Vortragsreihe, die der Verband plante und die von Mitgliedern gestaltet werden sollte. Man würde dank der zentralen Lage des Verbands keinen Mangel an interessiertem Publikum haben. Auch eine Kooperation mit dem Shanghai Oriental TV war angedacht. In letzter Zeit erfreuten sich Vorlesungen über das chinesische Altertum zunehmender Beliebtheit. Die Leute kamen ja vor lauter Geldverdienen nicht mehr dazu, die Klassiker zu lesen, doch auf diese Weise konnten sie sich vor dem Fernseher entspannen, während sie sich Vorträge mit einfachen Erklärungsmustern und farbenfrohem Hintergrund ansahen – intellektuelles Fastfood.
    »Ein Kritiker hat solche Vorträge als Instant-Nahrung bezeichnet, die der Zuhörer nicht mehr selbst verdauen muss«, bemerkte Chen.
    »Trotzdem sind sie besser als gar nichts.«
    »Das stimmt.«
    »Die Reihe wird unserem Verband nicht nur zusätzliche Einnahmen bringen, sondern der Literatur auch zu mehr Aufmerksamkeit verhelfen. Und dich haben wir dazu ausersehen, den Vortrag über das Buch der Lieder zu halten.«
    »Dafür bin ich doch gar nicht qualifiziert. Ich habe ausschließlich Lyrik mit freien Rhythmen geschrieben.«
    Dennoch verstand er ihr Ansinnen. Die staatliche Unterstützung für den Schriftstellerverband wurde immer stärker reduziert. An musste daher zusätzliche Einnahmequellen auftun, etwa indem sie das Nebengebäude an einen Weinhändler vermietete, der dort angeblich »chinesisch-französische Völkerverständigung« betrieb, oder indem man einen Teil der Mauer an der Julu Lu einriss, um dort ein öffentliches Café zu errichten. Und doch blieb die Finanzlage angespannt, während sich immer mehr Mitglieder über mangelnde Dienstleistungen und Vergütungen beklagten. An stand von allen Seiten unter starkem Druck.
    In die Gesprächspause hinein begann eine Zikade zu zirpen, fast ein bisschen zu früh für die Jahreszeit.
    Als Chen aufblickte, kam eine junge Frau leichtfüßig über den Rasen auf sie zugelaufen.
    Schlank und behende – wie jung sie doch ist, / die Spitze einer Zimmetknospe im frühen Frühling.
    Seines Wissens war sie kein Verbandsmitglied, er hatte sie noch nie bei einer Versammlung gesehen. Sie trug eine scharlachrote Seidenjacke im chinesischen Stil. Dieses zierliche Figürchen schien geradewegs einer traditionellen Bildrolle entstiegen zu sein. In ihren großen, klaren Augen kräuselten sich Frühlingswellen , wie es in einer klassischen Gedichtzeile hieß, doch die Kamera in ihren Händen war auf dem neuesten technischen Stand.
    »Guten Tag, Vorsitzende An«, grüßte sie, bevor sie sich Chen mit strahlendem Lächeln zuwandte. »Und Sie sind Genosse Oberinspektor Chen, nicht wahr? Ich habe Ihre Gedichte gelesen. Sie haben schon bei uns veröffentlicht.«
    »Dann sind Sie …«
    »Lianping von der Wenhui -Tageszeitung, vorübergehend verantwortlich für die Literaturseite. In dieser Eigenschaft wollte ich Sie beide um weitere Beiträge für unsere Zeitung
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