Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
99 Särge: Roman (German Edition)

99 Särge: Roman (German Edition)

Titel: 99 Särge: Roman (German Edition)
Autoren: Xiaolong Qiu
Vom Netzwerk:
damit die Wahrheit ans Licht kommt und nicht wie ein Stein lautlos auf den Meeresgrund fällt. Denn sonst wäre alles umsonst gewesen. Bei Ihren Computer- und Internetkenntnissen traue ich Ihnen zu, dass Sie diese Informationen wirkungsvoll und sicher einzusetzen wissen.«
    »Ich tue alles, was Sie wollen«, sagte sie mit gebrochener Stimme, ihre Blicke trafen sich.
    »Eines müssen Sie mir versprechen, Lianping: Sie dürfen dabei kein Risiko eingehen.«
    »Nein, ich weiß, wie man so etwas macht.«
    Sie ergriff seine Hand. Ein sternenübersäter Himmel wölbte sich hinter der Gardine, die ein einziges Mal leise raschelte. Im Hintergrund warfen die Kerzen huschende Schatten.
    Lichtwellen eines verblassenden Mondes, / die Jadedeichsel des Großen Wagens senkt sich, / an den Fingern zählen wir ab, / wann der Westwind wieder blasen wird / und merken nicht, wie im Dunkeln die Zeit verrinnt …
    Wieder klang das Glockenspiel vom Zollgebäude herüber.
    »Jetzt spielt es wieder ›Der Osten ist rot‹«, bemerkte Chen, »die Hymne, die Mao als Retter Chinas feiert.«
    »Ja?«
    »Vor ein paar Jahren spielte es noch eine andere Melodie. Ich weiß nicht, wann sie ausgewechselt wurde. Die Zeit fließt so schnell – im Dunkeln.«
    »Und mir kommt es vor, als würde ich Sie schon viele Jahre kennen, Chen«, sagte sie leise, »dabei sind wir uns doch erst vor kurzem über den Weg gelaufen.«
    »Ich erinnere mich noch genau an unsere erste Begegnung beim Schriftstellerverband. Professor Yao hielt eine Rede unter dem Titel ›Das Rätsel China‹. Das erinnerte mich an ein Gemälde, das ich in Madrid gesehen habe.«
    »Welches Gemälde?«
    » L’enigma di Hitler , Das Rätsel Hitlers, von Salvador Dalí, ein Bild, das einem wirklich nahegeht. Ich habe es vor Jahren gesehen, aber sämtliche surrealistischen Details sind mir in Erinnerung geblieben. Der verdorrte Baum, das zerschlissene Foto Hitlers auf dem leeren Teller, der riesige zerbrochene Telefonhörer mit der Träne, der vielleicht die ideologische Überwachung des Volkes darstellen soll. Hier und heute müssten wir den Telefonhörer nur durch ein Internetkabel und das Hitler-Bild durch eines von Mao ersetzen. Außerdem taucht auf dem Bild eine schattenhafte Figur hinter einem Regenschirm auf. Vielleicht soll sie eine Verkörperung der kollektiven Illusion darstellen. Es könnten aber genauso gut ich sein oder Sie. Gestern sagte mir meine Mutter etwas sehr Erhellendes: ›Man sieht sich nie selbst als Teil des Bildes.‹«
    »Sie meinen, in einem Gemälde mit dem Titel Das Rätsel China ?«
    »Ich bin schon viel zu lange Teil dieses Gemäldes – man könnte auch sagen, dieses Systems. Vielleicht ist es für mich an der Zeit, es zu verlassen.«
    »Das bezweifle ich, Oberinspektor Chen«, sagte sie. »Aber Professor Yao erwähnte damals in seiner Rede den Spruch von den neunundneunzig Särgen. Der Gedanke daran, lässt mich erschaudern – Ihretwegen. Dieser Kampf ist aussichtslos, solange das Parteiinteresse über allem anderen steht. Sie setzen sich unvorstellbaren Gefahren aus, für nichts.«
    »Mein Vater hat in meiner Kindheit immer wieder einen Satz von Konfuzius zitiert: Auch wenn er weiß, dass es unmöglich ist, versucht der Edle, das zu tun, was er für richtig hält«, entgegnete Chen. »Aber das klingt jetzt vielleicht ein bisschen dramatisch …«
    In dem Moment klopfte es an der Tür.
    »Sollen wir jetzt die Hauptgerichte zubereiten, Herr Chen?«

Dank
    Teile dieses Buches wurden in Shanghai geschrieben, wo ich die Hilfe von Netzbürgern erhielt, die namenlos bleiben müssen. Ich kann ihnen nicht genug für ihre mutigen Aktionen danken. Andere Teile sind an der University of New Southern Wales entstanden, der ich ebenfalls zu Dank verpflichtet bin. Mein besonderer Dank geht an Cathryn Hlavka, Stephen Muecke, James Ronald, Richard Henry, Helen Geier und Jeremy Campbell Davys für ihre freundliche, großzügige Unterstützung. Für Anregungen bezüglich der eingestreuten Gedichte danke ich meinem Dichterfreund Yesi aus Hongkong, der leider kürzlich verstorben ist. Darüber hinaus gab es noch viele andere, die mir geholfen haben; sie sind zu zahlreich, um alle hier aufgeführt zu werden.

Über die Autoren
    Qiu Xiaolong, 1953 in Shanghai geboren, arbeitete als Übersetzer, Lyriker und Literaturkritiker. Seit 1988 lebt er in den USA, wo er seit 1994 chinesische Sprache und Literatur lehrt. Seine Krimis um Oberinspektor Chen erscheinen bei Zsolnay, darunter Tod
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher