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99 Särge: Roman (German Edition)

99 Särge: Roman (German Edition)

Titel: 99 Särge: Roman (German Edition)
Autoren: Xiaolong Qiu
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Name. Die Leute im Internetcafé kannten sie; entweder hatten sie nichts bemerkt, oder es hatte sie nicht interessiert. »Ich weiß nicht, was ich sagen soll, Chen.«
    »Worüber man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen. So ähnlich hat Wittgenstein es formuliert.« Schließlich war es nicht seine Aufgabe gewesen, den Absender des Originalfotos zu finden.
    Er schenkte sich ein weiteres Mal Reiswein nach, und diesmal hinderte sie ihn nicht daran.
    »Jetzt aber genug von dieser Geschichte. Kehren wir zu dem Fall zurück, den ich zu bearbeiten hatte. Die Frage ist, wie ich mich jetzt verhalten soll.«
    »Oberinspektor Chen?«
    »Sie haben sich bei dieser Geschichte verrannt, Lianping.« Chen nahm einen tiefen Schluck. »Als Polizist müsste ich einen Bericht an Parteisekretär Li oder an die Parteidisziplinarbehörde der Stadt Shanghai schicken. Aber was wäre die Folge?«
    »Dann …«
    »Ich glaube, ich muss das nicht weiter ausführen.«
    »Und wenn Sie nichts dergleichen täten?«, fragte sie mit gepresster Stimme. »Niemand außer uns weiß davon.«
    »Wenn ich nichts tue, dann ist Hauptwachtmeister Wei umsonst gestorben. Als Polizist könnte ich Ihnen dann nicht mehr in die Augen schauen, zumindest nicht mit Selbstrespekt.«
    »Dann …« Unwillkürlich griff sie nach seiner Hand, zog ihre Hand aber sofort wieder zurück, als der Diamantring aufblitzte.
    »Sie erwähnten vorhin, dass Sie etwas über das Ziel der Mission des Pekinger Teams in Shanghai gehört hätten, Lianping.«
    »Niemand weiß Genaues«, antwortete sie mit niedergeschlagenen Augen. »Es kann ebenso gut ein Gerücht sein.«
    »Ja, vielleicht. Aber da das mein letzter Fall als Polizist sein dürfte, möchte ich ihn wenigstens ordentlich abschließen.«
    Verwirrt und erschrocken sah sie ihn an.
    »Ich weiß nicht, wie die Dinge an der Parteispitze in Peking stehen, aber als Parteimitglied bin ich auch verpflichtet, der Zentralen Parteidisziplinarbehörde in Peking Bericht zu erstatten.«
    »Ja, ich habe gehört, dass Sie persönliche Verbindungen zum Genossen Zhao, dem pensionierten Vorsitzenden des Komitees, haben.«
    »Glauben Sie nicht alles, was die Leute reden. Jedenfalls hat das Pekinger Team niemals Kontakt zu mir aufgenommen. Ich habe mich gefühlt wie der Blinde, der in dunkler Nacht auf blindem Pferd einem unergründlichen See entgegenreitet. Ich weiß nicht, was aus mir werden wird, dennoch muss ich den Sprung wagen.«
    Sie starrte ihn an und verbarg dann das Gesicht in den Händen. Als sie wieder aufsah, glitzerten Tränen in ihren Augen.
    »Ich fühle mich so elend«, sagte sie mit zitternder Stimme. »Wer bin ich denn schon? Ich habe versucht, besonders clever zu sein, meinen Traum in Shanghai zu verwirklichen, meine Chance zu nutzen. Ich schwimme mit dem Strom, nur zwischendurch habe ich insgeheim meinen kleinen privaten Protest geäußert. Aber Sie, Sie setzen Ihre Karriere aufs Spiel …« Sie verstummte und wischte sich die Tränen mit dem Handrücken aus dem Gesicht.
    »So kann man das nicht sagen«, erwiderte er und tätschelte ihren weichen Unterarm. Auf dem Weg zur Reisweinschale wischte seine Hand eine Träne von ihrer Wange. »Vielleicht ist es Zeit, dass ich mich nach einer anderen Arbeit umsehe. Vielleicht wäre ich ein guter Übersetzer. Gu hat Ihnen das ja vorhin bestätigt. Und da ist noch etwas, das Sie in Ihre ›Biographie‹ aufnehmen können: Ich habe nebenher einige weitere klassische Gedichte ins Englische übersetzt. Dieses zum Beispiel, es stammt von Wang Han aus dem 8. Jahrhundert: Der milde Wein schimmert / in durchscheinender Schale! / Ich trinke ihn zu Pferde, / falls plötzlich die Pipa erklingt / und mich zum Angriff ruft. // Oh, lache nicht, mein Freund, / wenn ich betrunken / auf dem Schlachtfeld sterbe. / Wie viele meiner Krieger / werden wohl die Heimat wiedersehen?«
    »Bitte, hören Sie auf, Chen …«
    »Ich schätze Ihre Freundschaft, Lianping, deshalb möchte ich Sie um einen Gefallen bitten. Sie können aber auch ablehnen.«
    »Was denn?«
    »Wenn ich die Beweise, die Zhou hinterlassen hat, der Zentralen Parteidisziplinarbehörde in Peking übergebe, ist nicht gesagt, dass sie die Daten auch nutzen. Jedenfalls werden sie im aktuellen politischen Interesse handeln, womöglich sogar aus gutem Grund, aber vielleicht auch aus dem falschen. Für diese Leute ist Gerechtigkeit bloß ein bunter Ball, der in der Hand des Zauberers jederzeit seine Farbe wechseln kann. Deshalb brauche ich Sie,
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