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99 Särge: Roman (German Edition)

99 Särge: Roman (German Edition)

Titel: 99 Särge: Roman (German Edition)
Autoren: Xiaolong Qiu
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Eigentlich hätte ihr das schon viel früher klar sein müssen.
    Der Klang seiner Stimme veränderte sich ein wenig, als er zu erzählen begann: »Es war einmal ein Polizist, nennen wir ihn C, der den Tod eines korrupten Beamten namens Z während eines shuanggui untersuchte. Es war ein komplizierter Fall, in dem die Vertreter verschiedener Institutionen mit unterschiedlichen Interessen ermittelten. Ein Aspekt des Falls war die subversive Rolle, die engagierte Internetnutzer in unserer heutigen Gesellschaft spielen können, etwa durch das neue Phänomen der Menschenfleischsuche. Der fragliche Fall begann damit, dass jemand ein Foto online stellte, was prompt zu einer solchen Massenermittlung und zur Bloßstellung von Z führte.
    Als Polizist war C nicht der Ansicht, dass die Person, die das Foto ins Netz gestellt hatte, ein Unrecht begangen hatte. Im Gegenteil, C hatte seine eigenen Vorbehalte gegen die Kontrolle des Internets von Seiten der Regierung. Doch die anderen Ermittler, einschließlich der Inneren Sicherheit, waren im Namen der sozialen Stabilität darauf aus, den sogenannten Unruhestifter im Netz ausfindig zu machen. Aber die gesuchte Person war klug genug, das Bild vom Computer eines Internetcafés aus zu schicken, weshalb kein Absender ermittelt werden konnte.«
    Chen machte eine Pause und griff nach seiner Schale, doch Lianping kam ihm zuvor und nahm sie ihm aus der Hand.
    »Sie trinken zu viel.«
    »Es geht mir gut, Lianping«, sagte er mit einem müden Lächeln. Dann fuhr er fort: »Im Laufe seiner Ermittlungen lernte C eine junge Journalistin namens L kennen. Er fühlte sich zu ihr hingezogen, nicht nur deshalb, weil sie attraktiv und intelligent war, sondern auch, weil sie sich im Sozialismus chinesischer Prägung für Gerechtigkeit einsetzte. Er war angenehm überrascht, als sie ihm bei seinen Ermittlungen half, indem sie ihm im Vertrauen vom Widerstand der Internetnutzer gegen die Kontrolle durch die Regierung erzählte. Sie stellte ihm einen Computerexperten vor, der bereit war, für ihn die Grenzen der Gesetze zu überschreiten. In der Zwischenzeit stieß er durch Fotos, die Freunde ihm zufällig elektronisch schickten, auf Indizien, die der Inneren Sicherheit entgangen waren. Auch entdeckte er, während er im Internetcafé eine E-Mail von der jungen Journalistin herunterlud, wie man die Kontrollmechanismen umgehen konnte. Überrascht stellte er fest, dass der ursprüngliche Absender des Fotos kein anderer als L sein konnte. Wie würde C sich verhalten?«
    Hier machte Chen eine dramatische Pause. Dann hob er wieder an: Als Polizist und aufstrebender Kader erwartete man von C, dass er seinen Vorgesetzten umgehend Meldung erstattete. Aber L hatte das Foto nicht aus persönlichen Motiven geschickt, sie war einfach angewidert von der schamlosen Korruption derer, die vorgaben, zum Wohl der Partei zu handeln. Ihr Wunsch, Z in Schwierigkeiten zu bringen, entsprang der tiefen Ablehnung all der Ungerechtigkeiten in einer autoritären Gesellschaft. Ihre Tat erhielt viel Zuspruch und löste eine allgemeine Suche nach Beweisen für den dekadenten Lebensstil von Z aus. Für das, was Z dann zustieß, war sie nicht verantwortlich, sie hatte die Folgen ihrer Tat nicht absehen können.
    Wenn sie einer spontanen Eingebung gefolgt war, so galt dasselbe für C.« Wieder unterbrach Chen seine Ausführungen.
    In der Stille, die nun folgte, hörten sie Schritte über den Flur näher kommen und wieder verschwinden.
    »Ist die Geschichte hier zu Ende?«
    »Ja, das ist das Ende. Wie gesagt, für C stand die Absicht im Vordergrund, die Einzelteile zu einem Ganzen zusammenzufügen. Aber darüber hinaus muss er sich die Frage stellen, ob es in der heutigen Gesellschaft nicht vielleicht wichtigere Dinge gibt, als ein funktionierendes Rädchen in einem übergeordneten System zu sein – zum Beispiel Gerechtigkeit, ganz gleich, wie unvollständig und widersprüchlich sie sein mag. Aber diese Geschichte handelt ja nicht von realen Personen, sie existiert nur für uns beide.«
    Chen zog einen Briefumschlag hervor, der die herausgerissenen Seiten aus dem Register des Internetcafés Fliegendes Pferd enthielt, und reichte ihn ihr. »Beinahe hätte ich es vergessen. Das ist für Sie.«
    »Was ist das?«, fragte sie, als sie den Umschlag öffnete. Sie warf einen kurzen Blick auf den Namen Lili in einer der Eintragungen, und die Farbe wich aus ihrem Gesicht. Nur wenige kannten ihren Kindernamen. In ihrem Personalausweis stand ihr neuer
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