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99 Särge: Roman (German Edition)

99 Särge: Roman (German Edition)

Titel: 99 Särge: Roman (German Edition)
Autoren: Xiaolong Qiu
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Kontrolle des Parteiapparats.
    Kurz gesagt, Fälle von shuanggui fielen nicht in die Zuständigkeit der Polizei.
    »Wegen seiner Stellung und der politischen Tragweite des Falls müssen wir ermitteln und bestätigen, dass es sich um Selbstmord handelt.« Dies war nun wieder Li, und es klang, als würde plötzlich eine Lesung aus der Volkszeitung in die Unterhaltung eingeblendet. »Die Situation ist schwierig. Die Partei erwartet höchste Alarmbereitschaft von uns.«
    »Wenn Liao und Wei schon mit dem Fall betraut sind, wozu braucht es dann noch mich?«
    »Sie als erfahrenster Beamter des Präsidiums müssen unbedingt dabei sein. Wir verstehen, dass Sie anderweitig beschäftigt sind, und haben die Kollegen von der Mordkommission deshalb bereits losgeschickt, sie werden die Hauptarbeit übernehmen. Aber Sie möchte ich als beratenden Beamten bei den Ermittlungen dabeihaben. Das wird die Ernsthaftigkeit unserer Untersuchung in diesem Korruptionsfall unterstreichen. Alle wissen, dass Sie Vizeparteisekretär unseres Präsidiums sind.«
    Chen hatte schweigend zugehört, sich eine Zigarette angezündet und den Rauch tief eingeatmet. Plötzlich erinnerte er sich.
    »Zhou, Menschenfleischsuche – war das die Sache mit den Zigaretten?«
    »Genau. Es ging um eine Packung der Marke 95 Supreme Majesty. Zhou hatte sie bei einer Sitzung vor sich auf dem Tisch liegen, und das wurde fotografiert. Jemand stellte das Foto ins Internet und löste damit eine wahre Hetzjagd aus, die einen verheerenden Skandal hervorrief. Die Details kann ich Ihnen ja ersparen«, erklärte Li und schloss dann: »Setzen Sie sich mit der Mordkommission in Verbindung.«
    »Aber ich weiß überhaupt nichts über den Fall.«
    »Sie haben doch gerade bewiesen, dass Sie mit dem Hintergrund vertraut sind. Das vor allem ist wichtig, sehr wichtig.«
    Chen hatte lediglich einen Artikel in der Lokalpresse überflogen. Der Begriff »Menschenfleischsuche« hatte sein Interesse geweckt. Er wusste nur, dass dies etwas mit Internetrecherche zu tun hatte. Im Sprachgebrauch waren in letzter Zeit interessante Wortschöpfungen in Verbindung mit dem Internet aufgetaucht, aber viele von ihnen waren nur den sogenannten »Netzbürgern« geläufig.
    Zweifellos hatte der Fall eine politische Dimension. Ein Regierungsbeamter, dessen Karriere durch einen Skandal jäh beendet wurde und der in der anschließenden extralegalen Internierung gestorben war, das gab natürlich Anlass zu wilden Spekulationen.
    »Sagten Sie, Zhou habe sich in einem Hotel umgebracht?«, fragte Chen nach.
    »Ja.«
    »Welches war das noch gleich?«
    »Die Villa Moller, an der Kreuzung Shaanxi und Yan’an Lu.«
    »Dann brauche ich ja nicht erst ins Präsidium zu kommen. Ich gehe direkt vom Schriftstellerverband aus zur Villa, sie liegt gleich um die Ecke. Wer ist sonst noch vor Ort?«
    »Von uns keiner, aber es sind noch andere Gruppen im Einsatz; eine von der Disziplinarbehörde der Partei und, wie wir eben erfahren haben, auch eine Gruppe von der Stadtregierung. Letztere hat sich zur gleichen Zeit wie Zhou dort eingemietet, als das shuanggui begann.«
    Das war ungewöhnlich, überlegte Chen. Die Ermittlungen im Rahmen eines shuanggui wurden normalerweise von der Disziplinarbehörde der Partei durchgeführt. Warum also waren Beamte der Stadtregierung anwesend – zusätzlich zu Disziplinarbehörde und Polizei?
    Aber Chen behielt seine Bedenken für sich und fragte nur: »Wann wird Wei dort sein?«
    »Er macht sich sofort auf den Weg.«
    »Gut, dann treffe ich ihn im Hotel.«
    Chen drückte seine Zigarette an einem Schmuckfelsen aus und wollte gerade gehen, als er die junge Journalistin namens Lianping am Teich entlang auf das Gebäude zustreben sah, vermutlich würde sie für ihre Zeitung über die Sitzung des Verbandes berichten. Sie sprach in ein zierliches Mobiltelefon.
    Über ihr blitzte blau der Flügel eines Eichelhähers auf, ihr Gesicht erblühte zu einem strahlenden Lächeln. Chen kam ein Gedicht des Songzeitlichen Dichters Lu You in den Sinn, der sich im Alter an seine Jugendliebe erinnerte. Auch wenn es nicht unbedingt auf die Situation zutraf, drängten sich ihm die Zeilen auf: … die herzzerbrechenden Frühlingswellen, grün unter der Brücke, die einst von ihrer Ankunft kündeten, so leichtfüßig und von solcher Schönheit, dass die Wildgänse beschämt aufflogen. Er schüttelte irritiert den Kopf. Vielleicht hatte An mit ihrem Spott ja recht: Jemand, der mit romantischen Gedichtzeilen auf den
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