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99 Särge: Roman (German Edition)

99 Särge: Roman (German Edition)

Titel: 99 Särge: Roman (German Edition)
Autoren: Xiaolong Qiu
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Lippen an den Tatort ging, war wohl nicht geeignet für den Polizeidienst.
    Er überlegte kurz und beschloss dann, wie geplant weiterhin der Sitzung des Schriftstellerverbands beizuwohnen. Schließlich war er in diesem Fall ja nur beratend tätig. Es war nicht nötig, vor der Mordkommission in der Villa Moller zu erscheinen.

2
    Die Villa Moller war eines der sogenannten Elitehotels in Shanghai. Sie lag an der Kreuzung Yan’an und Shaanxi Lu und war trotz ihrer wechselvollen Geschichte bis heute in ihrem ursprünglichen Zustand erhalten.
    Eric Moller, ein jüdischer Geschäftsmann, der in Shanghai ein Vermögen mit Pferde- und Hunderennen gemacht hatte, ließ dieses Märchenschloss in den Dreißigerjahren errichten, um einen Traum seiner kleinen Tochter zu erfüllen. Es wurde ein architektonisches Phantasiegebilde, in dem sich Elemente aus Nordeuropa und Asien mischten: glasierte Dachplatten, farbige Backsteine und Dachfenster, die kauernden Drachen glichen und sonst nur in den Shanghaier Shikumen -Siedlungen zu finden waren. Nach 1949 waren dort staatliche Behörden untergebracht, bis man das Gebäude schließlich in ein Luxushotel umwandelte; es war gründlich saniert und bis zur detailgetreuen Inneneinrichtung in seiner ganzen Pracht wiederhergestellt worden. Dem Haupthaus hatte man einen stilgerechten Anbau hinzugefügt.
    Chen war schon oft dort vorbeigekommen, hatte dem Hotel aber keine weitere Beachtung geschenkt.
    Zwei uniformierte Sicherheitsleute bewachten zusammen mit einem Steinlöwenpaar den Eingang. Er trat ein und begab sich zu dem Nebengebäude, eine getreuliche Kopie des Haupthauses. Es war eine dreistöckige Backsteinvilla mit geschwungenen Dachfenstern.
    Hier stand ein weiterer uniformierter Wachmann, der Chen bat, sich auszuweisen. Er verglich das Bild auf der Dienstmarke mit dem Original, notierte die ID -Nummer und telefonierte dann mit jemandem im Inneren des Gebäudes, bevor er den Oberinspektor einließ.
    Die märchenhafte Aura des Ortes war damit schlagartig zerstört.
    »Zimmer 302«, sagte der Wachmann. »Man erwartet Sie.«
    Chen begab sich in den dritten Stock, in dem sich lediglich sechs Dachzimmer befanden, von denen jedes über ein Art-deco-Fenster verfügte. Er fand die Nummer 302 und klopfte. Hauptwachtmeister Wei öffnete ihm, das Mobiltelefon in der Hand. Außer ihm befanden sich noch zwei weitere Beamte im Raum, beide gehörten nicht zum Präsidium.
    Obwohl sie sich seit langem kannten, hatte Chen bisher noch nicht mit Wei zusammengearbeitet. Er war ein fleißiger, umgänglicher und erfahrener Kollege, hatte aber bei seiner Karriere nicht immer Rückenwind gehabt. Es hieß, er habe sich bisweilen kritisch über Chen geäußert.
    »Das ist Genosse Jiang Ke von der Shanghaier Stadtregierung«, sagte Wei und stellte Chen einen drahtigen Mann Ende vierzig oder Anfang fünfzig mit ungewöhnlich breiter Stirn vor. »Und das ist Genosse Liu Dehua von der Disziplinarbehörde der Partei.«
    Chen schüttelte beiden die Hand. Jiang war Vize-Amtsleiter der Stadtregierung und galt als schlau und gerissen, außerdem gehörte er zu dem einflussreichen Zirkel um Qiangyu, den Ersten Parteisekretär Shanghais. Liu wirkte älter; ein kleiner, schwächlicher und vollkommen kahler Mann, der leicht hinkte und sich im Gegensatz zu Jiang den Anschein übertriebener Bescheidenheit gab, vermutlich weil er sich bereits dem Rentenalter näherte.
    Hinter ihnen lag die Leiche von Zhou, den man aus der von einem freigelegten Deckenbalken baumelnden Schlinge befreit hatte. Seine Gesichtszüge waren verzerrt, der Mund zu einer letzten Frage verzogen, die ihm niemand mehr beantworten würde. Ein Auge war noch ein wenig geöffnet. Nach der bereits einsetzenden Totenstarre zu urteilen, schätzte Chen, dass der Mann schon am späten Abend gestorben war.
    Es entbehrte nicht einer gewissen Ironie, dachte Chen, dass Zhou in diesem Hotel einen der in der Stadt so seltenen freigelegten Balken gefunden und für seine Zwecke genutzt hatte. Ausgerechnet in diesem Raum hatte man das Gebälk in seiner ursprünglichen Form belassen.
    Nicht du wählst den Balken, sondern der Balken wählt dich. Diese Zeile fiel Chen plötzlich ein, doch er wusste nicht mehr, von wem sie stammte.
    Was mochte Zhou in den letzten Minuten seines Lebens gedacht haben, als er vor der baumelnden Schlinge stand?
    Es fiel Chen nicht schwer, das Szenario hinter diesem vermuteten Selbstmord zu erahnen. Ein hoher Kader, der auf dem Höhepunkt seiner
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