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99 Särge: Roman (German Edition)

99 Särge: Roman (German Edition)

Titel: 99 Särge: Roman (German Edition)
Autoren: Xiaolong Qiu
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werde die Leute noch einmal vernehmen.«
    Nach Zhous Tod hatten die beiden hier im Hotel eigentlich nichts mehr verloren und konnten zu den Ermittlungen kaum etwas beitragen. Dennoch machten sie keine Anstalten, sich zurückzuziehen oder den Fall der Polizei zu überlassen. Sie warteten jetzt auf neue Anweisungen von oben, vermutete Chen. In Gegenwart dieser beiden Beamten konnten die Polizisten nicht so vorgehen, wie sie es gern getan hätten.
    »Ich halte es für das Beste, wenn wir ins Präsidium zurückkehren«, sagte Chen und erhob sich. »Meines Wissens hat Inspektor Liao eine Akte über Zhou angelegt. Wir werden sie mit ihm durchgehen, ebenso den Autopsiebericht.«
    Wei schien überrascht, erwiderte aber nichts.
    »Geben Sie mir Bescheid, wenn Sie Neuigkeiten haben«, sagte Jiang und erhob sich ebenfalls.
    »Das werde ich«, entgegnete Chen. »Und Ihnen auch, Genosse Liu.«
    Dann gingen die beiden Polizisten.
    Als sie aus dem Hotel traten, zog Chen ein Päckchen Zigaretten heraus und bot Wei eine an.
    »Oh, das ist ja eine Schachtel China«, bemerkte Wei. Eine weitere exklusive Marke, wenn auch nicht ganz so teuer wie 95 Supreme Majesty. »Also, was halten Sie von der Sache, Chef?«
    »Wenn es Selbstmord war, haben wir hier nichts verloren, aber wenn es Mord war, haben die anderen hier nichts verloren.«
    »Gut formuliert«, sagte Wei und nahm einen tiefen Zug von seiner Zigarette. »Allerdings waren die anderen zuerst da und verfügen über Informationen, die wir nicht haben.«
    »Dann müssen wir uns eben selbst schlaumachen.«
    »Da haben Sie recht. Aber Sie haben so viel anderes zu tun, Oberinspektor Chen. Lassen Sie mich die Kleinarbeit machen, ich halte Sie auf dem Laufenden.«
    »Sie sind mit den Ermittlungen beauftragt, Wei«, sagte Chen und fragte sich, ob in den Worten seines Kollegen ein gewisser Sarkasmus mitklang. »Ich bin lediglich der Berater Ihres Teams. Natürlich können Sie mich jederzeit anrufen.«
    Während Wei um die Ecke Yan’an Lu verschwand, wanderte Chens Blick zu der Fußgängerüberführung hinauf. Er zog sein Handy aus der Tasche.

3
    Oberinspektor Chen Sass in seinem neuen Büro – dank seiner Beförderung zum Vizeparteisekretär war es größer als sein früheres – und arbeitete sich durch Massen von Papierkram, den er für gewöhnlich bis zur letzten Minute aufschob, der ihm heute aber perverses Vergnügen bereitete.
    In seiner Erinnerung klang etwas nach, was Professor Yao in seinem Vortrag gestern gesagt hatte. Das Rätsel China – ein Sammelbegriff für die spezifischen Probleme seines Landes – beschäftigte ihn. Abwesend blätterte er einen Stoß Papiere durch und überflog nur die Überschriften, bevor er mechanisch seine Unterschrift daruntersetzte.
    Er fragte sich, ob auch Zhous Tod Teil dieses Rätsels war. Bislang hatte der Oberinspektor praktisch nichts für die Ermittlungen getan, die er als Berater begleiten sollte. Chen hatte kaum Anhaltspunkte, mit denen er arbeiten konnte. Die Akte, die er erwähnt hatte, war lediglich ein Vorwand gewesen, um das Hotel verlassen zu können. Aber über die Zeit vor dem Skandal gab es ausreichend Material zu Zhou. Ein Stapel Zeitungsausschnitte lag in einer Ecke von Chens Schreibtisch, doch alle stammten aus den offiziellen Medien und betrafen Zhous Arbeit als Direktor der Behörde für Wohnungsbauentwicklung.
    Zhou hatte eine steile Karriere gemacht und war von einem gewöhnlichen Arbeiter in einem kleinen Nachbarschaftsbetrieb in den späten Siebzigerjahren aufgestiegen zu seiner heutigen Position. Er hatte in der sich dramatisch verändernden Stadtlandschaft eine immense Zahl von Wohnungsbauprojekten auf den Weg gebracht. Selbst ein Shanghaier wie Chen fand sich zwischen den Wolkenkratzern kaum noch zurecht, die in letzter Zeit aus dem Boden schossen wie Bambus nach dem Frühlingsregen. Es war daher erstaunlich, dass eine Menschenfleischsuche, ausgelöst durch eine Schachtel Zigaretten, einen Goliath wie Zhou zu Fall bringen konnte.
    Laut Parteisekretär Li hatten die Internetrecherchen der Netzbürger weitere Verfehlungen von Zhou ans Licht gebracht, woraufhin das shuanggui eingeleitet worden war. Darüber stand natürlich nichts in den Zeitungsausschnitten auf Chens Schreibtisch. Der Oberinspektor schob sie zu einem ordentlichen Stapel zusammen und lehnte sich seufzend zurück.
    Die Parteiführung pflegte ihre Beamten selektiv und »vertraulich« zu bestrafen, von solchen Maßnahmen gelangte in der Regel kaum etwas an
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