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69

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Titel: 69
Autoren: Ryu Murakami
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Vielleicht werde ich sogar Lehrer - schließlich liegt mir das im Blut ... Jetzt, wo ich darüber nachdenke, Mama, vielleicht ist das der Grund, warum du noch so jung aussiehst - weil du kleine Kinder unterrichtest. Weißt du, was Yamada neulich zu mir gesagt hat? Er hat gesagt: ›Ken, deine Mutter sieht genauso aus wie Ingrid Bergman in Wem die Stunde schlägt. ‹«
    Die Jacke war ein cremefarbenes, zweireihiges Ding mit orangem Flauschfutter, und der Rest meiner Aufmachung - Schuhe, Socken, Hosen, Pullover - war genauso schick. Während ich mich im Spiegel angrinste, nahm ich eine Hand voll von dem Aftershave meines Vaters und stellte mir vor, wie ich in diesem Aufzug durch ein kleines Fischerdorf schlenderte und sagte: »Diese Fische, die da in der Sonne trocknen, das sind doch sicher fliegende Fische?« Die Einheimischen würden bestimmt denken, ich käme aus Tokio.
    Lady Jane wartete auf mich in einem marineblauen Mantel und Schnürstiefeln, an ihrem Arm hing ein Korb. Als ich durch die Bahnhofshalle auf diese Rehaugen zuging und einem kleinen Jungen, der Jingle Bells sang, den Kopf tätschelte, kam mir das wie eine Szene aus einem Film vor. Wenn sich jeder so fühlen könnte, wie ich mich in diesem Moment fühlte, mit meinem schicken Pullover und der McGregor-Jacke, kurz davor, mit meiner Freundin mit den Bambi-Augen an Heiligabend einen Ausflug zu machen, hätten sich alle Konflikte dieser Welt erledigt. Mildes Lächeln würde die Erde regieren. Unser Ziel war Karatsu.
    Der Bus war fast leer. Außer begabten, empfindsamen Simon-and-Garfunkel-Fans, wie wir es waren, gingen an Heiligabend nur abgebrannte, kaputte Familien an den Strand, weil sie nicht mehr bis Neujahr durchhalten konnten und Selbstmord begehen wollten.
    Karatsu war für seine schönen Kiefernwälder berühmt, seinen Strand, an dem die Größe der Wellen etwas über dem Durchschnitt lag, und sein Töpferhandwerk.
    »Du willst auf die Uni gehen, oder?«, fragte ich sie.
    »Ja, na ja, das habe ich vor.«
    »Hast du dich schon entschieden, wohin?«
    »Ich hab’ mich in Tsuda beworben und an Tokios Frauenuniversität und in Tonju.«
    Ich hatte keine Ahnung von dem Kram, den die Zeitschriften über die verschiedenen Universitäten druckten, und wusste deshalb auch nicht, wofür Tonju stand. Es hörte sich aber wie ein lustiger Ort an, also sagte ich, dass ich mich da vielleicht auch bewerben würde.
    »Was?« Der Engel lachte. »Tonju ist Tokios Hochschule für Frauen.«
    »Ich weiß, ich mache nur Spaß«, sagte ich und wurde dunkelrot.
    »Wo gehst du denn hin? In deiner Klasse sind fast nur zukünftige Medizinstudenten, nicht?«
    »Neunzig Prozent. Aber ich habe keine Chance, auf die Medizinische Hochschule zu kommen.«
    »Nein? Ich stelle es mir großartig vor, von einem Arzt wie dir behandelt zu werden.«
    Ich war völlig erschüttert und fragte mich, was sie damit wohl meinte. Schloss das auch die Vorstellung ein, wie ich ihr die Bluse auszog und ihre Brust abtastete oder sie bat, sich auf den Rücken zu legen und die Beine zu spreizen? ... Die Vorstellung war so früh am Morgen zu heftig für meinen Kreislauf - wir waren noch nicht einmal aus dem Bus gestiegen -, also beschwor ich das Bild von Adamas Gesicht herauf und ließ ihn mir sagen, ich solle die dreckigen Gedanken sein lassen. Das half, um mich abzukühlen.
    Die letzte Bushaltestelle war im Stadtzentrum von Ka-ratsu. Der Busfahrer erklärte uns, dass er außerhalb der Saison nicht den ganzen Weg bis zum Strand fuhr. Ich fragte mich, ob er eifersüchtig war und das nur aus Bosheit sagte.
    Es war ein ziemlich langer Weg bis zum Strand. Ich begann zu rechnen. Es war jetzt zehn Uhr morgens. Wir würden das Meer wahrscheinlich um halb elf erreichen, wie viel Zeit am Strand würde uns da bleiben? Der Korb des Engels enthielt vermutlich unser Mittagessen, aber selbst wenn wir über jedem köstlichen Krümel verweilten, blieben uns noch Stunden, die wir totschlagen mussten. Wir würden anfangen zu frieren, wenn wir da in der Kälte säßen und nichts zu tun hätten, und letztendlich dann beschließen, früher zurückzufahren. Ich wollte einen romantischen Sonnenuntergang , den sanften, schmelzenden Anblick eines blass-purpurnen Himmels, wenn die Luft um einen herum wie Wein ist, der einer Frau den Verstand raubt.
    »Magst du Kino?«, fragte ich sie.
    Am Eingang zum Shopping-Center von Karatsu gab es ein Kino. Sie zeigten Kaltblütig. Sie hätten es Das verdorbene Picknick nennen
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