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330 - Fremdwelt

330 - Fremdwelt

Titel: 330 - Fremdwelt
Autoren: Jo Zybell
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als sie sich dann unter Deck um ihre und Doc Ryans Koje versammelten, sahen sie die Bescherung: Doc Ryan lächelte die Decke an und rührte sich nicht mehr.
    Die Gicht habe er gehabt, sei schnell aus der Puste gekommen und überhaupt schon steinalt gewesen; so um die sechzig, wenn Brainless Kid alles richtig verstanden hatte. Er selbst war gerade achtzehn geworden, und noch die ganze Ewigkeit bis zu seinem Sechzigsten durchstehen zu müssen, erschien ihm alles andere als erstrebenswert.
    Johnny – sie hieß eigentlich Johanna, fand ihren Taufnamen aber »zu bieder«, wie sie sich ausdrückte –machte sich Vorwürfe, weil sie natürlich nicht nein gesagt hatte bei dem, was sie »kein Kind von Traurigkeit sein« nannte.
    Trashcan Kid tröstete sie und sagte: »Wenigstens hat der Doc noch mal seinen Spaß gehabt.« Brainless Kid sah das ganz ähnlich.
    Danach stritten sie, den ganzen Tag lang. Die einen wollten Doc Ryans Leiche im Meer versenken, die anderen bestanden darauf, ihm ein ordentliches Grab zu verschaffen. Gegen die Seebestattung – so nannten es die Leute, die früher zu den Engerlingen gehört hatten – waren Johnny, Monsieur Marcel, die Soldatenbraut und Paddy O’Hara. Johnny, weil sie nicht wollte, dass Haie ihren Doc fraßen, die anderen, weil sie seekrank waren und sich auf einen Tag freuten, an dem sie einmal nicht über die Reling kotzen mussten.
    Trashcan Kid, Ozzie, Peewee und Loola stimmten dafür, den Doc einfach ins Meer zu schmeißen. Also praktisch die ganze andere Hälfte der Mannschaft. Nur Brainless Kid hielt sich raus. Er zündete sich lieber ein Pfeifchen an, denn der Streit nervte ihn. War doch völlig gleichgültig, wo sie seinen Kadaver entsorgten: im Meer, im Dreck, im Feuer.
    Johnny heulte immer lauter, je länger der Streit sich hinzog, und Monsieur Marcels Worte und die der Soldatenbraut wogen nun einmal schwerer als die von Ozzie oder Peewee beispielsweise. Sie beschlossen schließlich, den Doc an einem der Strände des Rio Grande zu begraben.
    Also segelten sie durch das Mündungsgebiet, hielten nach einem besonders schönen Strand Ausschau und fuhren, als sie einen gefunden hatten, der auch Johnny gefiel, so nah heran wie nur irgend möglich. Dann ankerten sie, ließen das kleine Boot mit Doc Ryans Leiche zu Wasser und ruderten die knapp hundert Meter hinüber zum Strand. Jedenfalls ruderten Paddy, seine Soldatenbraut und Monsieur Marcel. Ozzie, Trashcan Kid, Loola und Peewee schwammen neben dem Boot her. Und Johnny ließ sich rudern.
    Brainless Kid blieb lieber an Bord der FUCKING WAASHTON.
    Auch wenn der Doc noch einmal seinen Spaß gehabt hatte, war es doch eine traurige Geschichte. Und Brainless Kid hasste es, wenn andere ihn heulen sahen. Er kletterte also aufs Dach der FUCKING WAASHTON, drückte Paul an seine Brust und stopfte sich ein Pfeifchen. Rauchend, Paul kraulend und heulend beobachtete er, wie die anderen das Boot an den Strand zogen und ein Loch zu graben begannen.
    »Ist doch eine ziemlich traurige Geschichte, Paul, oder?«, schniefte er. Weil es beinahe windstill war, hüllten süßlich riechende Rauchschwaden ihn und Paul ein. »Wer bringt mir jetzt denn Lesen und Schreiben bei, kannst du mir das sagen? Der Franzmann etwa? Der knutscht doch die ganze Zeit nur mit Peewee rum. Oder die Soldatenbraut? Die findet mich scheiße! Oder Paddy etwa? Den finde ich scheiße. Und die anderen können’s selber nicht.« Die Tränen strömten ihm übers Gesicht, umso heftiger, je mehr er rauchte. »Und wer sagt mir jetzt noch, dass ich … dass ich im Grunde meines Herzens …« Schluchzen erstickte seine Stimme.
    Drüben hoben sie den Doc aus dem Boot. Im Grunde deines Herzens bist du ein guter Junge, hatte Doc Ryan immer zu Brainless Kid gesagt; also während der sieben Tage, die sie sich gekannt und die sie von Waashton hier herunter gebraucht hatten.
    »Im Grunde meines Herzens, Paul, kapierst du?« Brainless Kid tippte sich mit der Pfeife an die Brust. »Das heißt: ganz tief hier drin. Wer sagt mir jetzt noch solche Sachen, verrat mir das.« Die Tränen liefen ihm über die Wangen, während sie drüben am Strand den Doc in seinem Sandloch versenkten.
    Paul verriet ihm gar nichts. Paul war Brainless Kids Kuscheltier: ein kleiner blauer Teddy mit weißem Bauch, altrosa Schnauze und Ohren, den er in den Ruinen eines Kaufhauses in Mexico City gefunden hatte. Es war nicht so, dass Paul nicht sprechen konnte – es hing eine Kordel mit einer kleinen Kunststoffperle am
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