Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
323 - Die Hölle auf Erden

323 - Die Hölle auf Erden

Titel: 323 - Die Hölle auf Erden
Autoren: Manfred Weinland
Vom Netzwerk:
sich bewegten, hingen auch keine öffentlichen Uhren.
    »Zwischen halb sieben und sieben«, schätzte Matt. Niemand sprach aus, was das bedeutete. Sie alle – bis auf Mahó – wussten, dass es knapp werden würde; verdammt knapp.
    Als sie nach schier endloser Odyssee endlich in Sichtweite der Bucht und der Hafenanlage kamen, heulten die Sirenen wieder auf.
    Matt blickte unwillkürlich zum Himmel. Er war außer Atem, sein Herz raste, und er glaubte fernen Flugmotorenlärm zu hören. Zu sehen war nichts. Mechanisch rief er sich in Erinnerung, was er einmal, wie jeder Kampfpilot, in der Ausbildung gelernt hatte:
    7:09 Uhr Ortszeit: Eine Aufklärungsmaschine erreicht die Stadt und dreht eine Runde. Sie ist der Vorbote des Grauens. In Hiroshima wird Fliegeralarm ausgelöst.
    8:15 Uhr: Die ENOLA GAY erreicht die Stadt. Die Bombe explodiert in 580 Metern Höhe...
    Wenn die jetzige Sirene dem Aufklärer galt, blieb ihnen noch eine Stunde. Bis dahin mussten sie es zum Berg Misen und dem dortigen Portal geschafft haben... das hoffentlich freigelegt war. Zum Graben würden sie keine Zeit mehr finden.
    »Wir können es schaffen«, knurrte Matt. »Aber wir brauchen ein Boot. Ein schnelles Boot. Kaito, wie sieht es bei dir aus? Du darfst jetzt nicht schlappmachen. Mahó braucht dich.«
    Der Mönch grinste schief und zeigte zu der Stelle, wo sie ihr Boot vertäut hatten. Es lag immer noch dort.
    »Nehmen wir das«, sagte er. »Falls niemand auf Rudern besteht, können wir diesmal auch den Motor anwerfen.«
    Sie legten die letzte Distanz zur Anlegestelle unbehelligt zurück. Die Umgebung war wie leergefegt.
    Kaito startete den Motor mit der gesunden Hand. Trotzdem stöhnte er, als er an der Leine zog.
    Das Boot tuckerte auf die Bucht hinaus.
    Tuckerte... stotterte... und blieb auf den Wellen schaukelnd liegen.
    ***
    Es kostete wertvolle Minuten, den abgesoffenen Motor neu zu starten. Minuten, die vielleicht über Leben oder Tod entschieden.
    Mahós Knieverletzung war wieder aufgebrochen. Xij versorgte sie notdürftig, während sich Matt, Kaito und Grao um den Motor kümmerten. Längst war der Luftalarm wieder aufgehoben – für jemanden mit Matts Hintergrundwissen kein Grund zur Erleichterung; im Gegenteil.
    Vierzig Minuten vor der Stunde null erreichten sie den Misen, die Anlegestelle bei Mahós Elternhaus. Kaito wollte im Haus nachsehen, ob sein Vater und seine Mutter den dringenden Rat befolgt hatten, schon einmal zum Lawinenfeld vorauszugehen. Xij bestand darauf, dass er sich schonte, und nahm ihm den Weg ab. Während Kaito mit den anderen vorauseilte, durchkämmte sie alle Räume des Hauses; sie waren verlassen.
    Mit dieser Nachricht im Gepäck holte sie die Gruppe am Uferweg, noch vor Erreichen des nach oben führenden Pfads, ein. Kaitos Reaktion blieb verhalten. Aufatmen würde er erst, wenn er seine Eltern am Ziel antraf.
    Und was, wenn dort Endstation war? Wenn die Soldaten dort geblieben waren und sie unter Beschuss nahmen? Oder das Zeitportal nicht gefunden hatten? Matt wagte es sich kaum auszumalen. Verbissen stieg er mit den anderen den Berg hinauf.
    Als er eine halbe Stunde später hinüber nach Hiroshima schaute, geschah es.
    Ein unwirkliches Licht schien den Himmel über der Stadt gefrieren zu lassen. Matt konnte gerade noch den Kopf herumreißen, und doch war ihm, als würde sich das Licht in sein Gehirn hineinfressen.
    »Schaut nicht hin!«, brüllte er. »Schließt die Augen!«
    Mahó schien ihn nicht gehört zu haben, denn sie stand weiter zur Stadt gewandt. Matt sprang vor sie, deckte ihr Blickfeld mit seinem Körper ab.
    Ohrenbetäubender Donner raste über die Bucht.
    Aber dabei würde es nicht bleiben.
    Matt sah hektisch um sich. Und entdeckte etwa zwanzig Meter neben dem Pfad einen Bachlauf, der hinab zur Küste plätscherte. Das Bachbett war nicht breit, aber es würde genügen. Es musste genügen!
    »Dort hinüber!«, brüllte er. »Ins Wasser! Schnell!«
    Matts Stimme kämpfte gegen den ausrollenden Donner an. Der Lichtblitz war längst erloschen, aber es wurde kaum dunkler. Nun konnten sie sich wieder umwenden – und sehen, was sie erwartete.
    Eine Feuerwalze breitete sich aus. Sie folgte der Druckwelle der Explosion, die, immer näher kommend, Häuser, Autos und Karren, Bäume und Boote durch die Luft wirbelte.
    Sie rannten um ihr Leben. Alle Müdigkeit und Schmerz waren vergessen in diesen Sekunden. Mit Mahó auf seinen Armen erreichte Matt kurz nach den anderen den Bachlauf und warf sich hinein.
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher