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3096 Tage

3096 Tage

Titel: 3096 Tage
Autoren: Natascha Kampusch
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der APA. Die Frau befand sich am Nachmittag auf der Polizeiinspektion Deutsch-Wagram in Niederösterreich.
    (Forts.) 23. August 2006
     
    Ich war keine verwirrte junge Frau. Für mich war es schmerzhaft, dass so etwas überhaupt in Erwägung gezogen wurde. Aber für die Polizei, die die Fahndungsfotos von einst, die ein kleines, pummeliges Schulkind zeigten, mit der abgemagerten jungen Frau, die vor ihnen stand, abgleichen musste, war es wohl eine naheliegende Möglichkeit.
    Bevor wir zum Auto gingen, bat ich um eine Decke. Ich wollte nicht, dass mich der Täter sieht, den ich immer noch in der Nähe vermutete, oder dass irgendjemand die Szene filmte. Eine Decke gab es nicht, aber die Polizisten gewährten mir Sichtschutz.
    Beim Auto angekommen, duckte ich mich tief in den Sitz. Als der Polizist den Motor anließ und sich der Wagen in Bewegung setzte, durchflutete mich eine Welle der Erleichterung. Ich hatte es geschafft. Ich war geflohen.
    Auf der Polizeiinspektion in Deutsch-Wagram wurde ich empfangen wie ein verlorenes Kind. »Ich kann es nicht glauben, dass du hier bist! Dass du lebst!« Die Polizisten, die sich mit meinem Fall beschäftigt hatten, drängten sich um mich. Die meisten waren von meiner Identität überzeugt, nur ein oder zwei wollten einen DNA-Test abwarten. Sie erzählten mir, wie lange sie nach mir gesucht hatten. Dass Sonderkommissionen gebildet und von anderen wieder abgelöst worden waren. Ihre Worte rauschten links und rechts an mir vorbei. Ich war zwar hochkonzentriert, aber ich hatte so lange mit niemandem gesprochen, dass mich die vielen Menschen überforderten. Ich stand hilflos in ihrer Mitte, fühlte mich unendlich schwach und begann, in meinem dünnen Kleid zu zittern. Eine Polizeibeamtin gab mir eine Jacke. »Dir ist ja kalt, zieh das an«, sagte sie fürsorglich. Ich schloss sie sofort ins Herz.
    Rückblickend wundert es mich, dass man mich damals nicht direkt an einen ruhigen Ort brachte und mit den Vernehmungen zumindest einen Tag wartete. Ich befand mich ja in einem völligen Ausnahmezustand. Achteinhalb Jahre lang hatte ich dem Täter geglaubt, dass Menschen sterben würden, wenn ich floh. Nun hatte ich genau das getan, nichts dergleichen war geschehen, trotzdem saß mir die Angst noch so im Nacken, dass ich mich selbst auf der Polizeistation nicht sicher und frei fühlte. Ich wusste auch nicht, wie ich mit dem ganzen Ansturm an Fragen und Anteilnahme umgehen sollte. Ich fühlte mich schutzlos. Heute denke ich, man hätte mich wohl unter behutsamer Betreuung ein bisschen ausruhen lassen sollen.
    Damals hinterfragte ich den Rummel nicht, ohne Atempause, ohne einen Moment der Ruhe wurde ich nach der Feststellung meiner Personalien in ein Nebenzimmer geführt. Die freundliche Polizistin, die mir die Jacke zum Überziehen gegeben hatte, wurde mit meiner Vernehmung betraut. »Setz dich und erzähl in Ruhe«, sagte sie. Ich blickte mich unsicher in der Amtsstube um. Ein Raum mit vielen Akten und leicht abgestandener Luft, der geschäftige Effizienz ausstrahlte. Der erste Raum, in dem ich mich nach meiner Gefangenschaft länger aufhielt. Ich hatte mich auf diesen Moment so lange vorbereitet, trotzdem kam mir die ganze Situation unwirklich vor.
    Die Polizistin fragte mich als Erstes, ob es in Ordnung sei, wenn sie mich duzte. Es wäre vielleicht einfacher, auch für mich. Aber ich wollte das nicht. Ich wollte nicht »die Natascha« sein, die man als Kind behandeln und herumschubsen konnte. Ich war geflohen, ich war erwachsen, und ich würde um eine angemessene Behandlung kämpfen.
    Die Polizistin nickte, fragte zunächst kleine Belanglosigkeiten ab und ließ mir dann Brötchen kommen. »Essen Sie doch etwas, Sie sind ja ganz vom Fleisch gefallen«, redete sie mir zu. Ich hielt das Brötchen, das sie mir gereicht hatte, in der Hand und wusste nicht, wie ich mich verhalten sollte. Ich war so durcheinander, dass mir die Fürsorge, das gute Zureden, wie ein Befehl erschien, den ich nicht befolgen konnte. Ich war viel zu aufgeregt, um zu essen, und hatte viel zu lange gehungert. Ich wusste, dass ich schlimme Magenkrämpfe bekommen würde, wenn ich jetzt ein ganzes Brötchen verschlang. »Ich kann nichts essen«, flüsterte ich. Aber der Mechanismus, einer Aufforderung nachzukommen, griff. Wie ein Mäuschen knabberte ich an der Rinde des Brötchens herum. Es dauerte, bis meine Spannung etwas nachließ und ich mich auf das Gespräch konzentrieren konnte.
    Die Polizistin weckte sofort Vertrauen
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