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3096 Tage

3096 Tage

Titel: 3096 Tage
Autoren: Natascha Kampusch
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gemähtem Gras in die Garage, während wir den Unterbodenschutz des alten, weißen Lieferwagens erneuerten. Ich hatte zwiespältige Gefühle, als ich mit dem Pinsel die wachsartige Schicht auftrug. Es war das Auto, in dem er mich entführt hatte und das er nun verkaufen wollte. Nicht nur die Welt meiner Kindheit war in unerreichbare Ferne gerückt - nun verschwanden auch die Versatzstücke aus der ersten Zeit meiner Gefangenschaft. Dieses Auto war die Verbindung zum Tag meiner Entführung. Nun arbeitete ich selbst daran, dass es verschwand. Es schien mir mit jedem Pinselstrich, als würde ich meine Zukunft im Keller zementieren.
    »Du hast uns in eine Situation gebracht, in der nur einer von uns beiden überleben kann«, sagte ich plötzlich. Der Täter blickte mich überrascht an. Ich ließ mich nicht beirren. »Ich bin dir wirklich dankbar dafür, dass du mich nicht getötet hast und dass du mich so gut versorgst. Das ist wirklich nett von dir. Aber du kannst mich nicht zwingen, bei dir zu leben. Ich bin ein eigener Mensch, mit meinen eigenen Bedürfnissen. Diese Situation muss ein Ende haben.«
    Wolfgang Priklopil nahm mir als Antwort stumm den Pinsel aus der Hand. Ich sah in seinem Gesicht, dass er zutiefst erschrocken war. Die ganzen Jahre über muss er sich vor diesem einen Augenblick gefürchtet haben. Dem Augenblick, in dem klarwurde, dass all seine Unterdrückung nicht gefruchtet hatte. Dass er mich nicht in letzter Konsequenz hatte brechen können. Ich redete weiter. »Es ist nur natürlich, dass ich wegmuss. Du hättest dir das von Anfang an ausrechnen können. Einer von uns muss sterben, es gibt keinen anderen Ausweg mehr. Entweder du bringst mich um, oder du lässt mich frei.«
    Priklopil schüttelte langsam den Kopf. »Das werde ich niemals tun, das weißt du genau«, sagte er leise.
    Ich wartete darauf, dass in irgendeinem Teil meines Körpers gleich Schmerzen explodierten, und bereitete mich innerlich darauf vor. Niemals aufgeben. Niemals aufgeben. Ich werde mich nicht aufgeben. Als nichts passierte, er nur reglos vor mir stand, holte ich tief Luft und sagte den Satz, der alles veränderte: »Jetzt habe ich so viele Male versucht, mich selbst zu töten - dabei bin ich hier das Opfer. Es wäre eigentlich viel besser, du würdest dich töten. Du findest ohnehin keinen anderen Ausweg mehr. Wenn du dich umbringst, wären die ganzen Probleme auf einmal weg.«
    In diesem Moment schien etwas in ihm kaputtzugehen. Ich sah die Verzweiflung in seinen Augen, als er sich stumm abwandte, und konnte sie kaum ertragen. Dieser Mann war ein Verbrecher - aber er war auch die einzige Person, die ich auf dieser Welt hatte. Wie im Zeitraffer sah ich einzelne Stationen der vergangenen Jahre an mir vorüberziehen. Ich schwankte und hörte mich sagen: »Mach dir keine Sorgen. Wenn ich weglaufe, werfe ich mich sofort vor einen Zug. Ich werde dich nie in Gefahr bringen.« Selbstmord erschien mir als die höchste Form der Freiheit, die Loslösung von allem, von einem Leben, das ohnehin längst zerstört war.
    Ich hätte in diesem Moment tatsächlich gerne zurückgenommen, was ich gesagt hatte. Aber nun war es ausgesprochen: Ich würde bei erster Gelegenheit fliehen. Und einer von uns beiden würde das nicht überleben.
     
    * *  *
     
    Drei Wochen später stand ich in der Küche und starrte auf den Kalender. Ich warf das abgerissene Blatt in den Müllkübel und wandte mich ab. Ich konnte es mir nicht leisten, lange zu sinnieren: Der Täter rief zur Arbeit. Am Vortag hatte ich ihm dabei helfen müssen, die Anzeigen für die Wohnung in der Hollergasse fertigzustellen. Priklopil hatte mir einen Stadtplan von Wien und ein Lineal gebracht. Ich vermaß den Weg von der Wohnung in der Hollergasse bis zur nächsten U-Bahn-Station, überprüfte den Maßstab und rechnete aus, wie viele Meter zu gehen waren. Danach rief er mich auf den Gang und befahl mir, zügig von einem Ende zum anderen zu gehen. Er stoppte die Zeit mit seiner Armbanduhr. Dann rechnete ich aus, wie lange man zu Fuß von der Wohnung zur U-Bahn und zur nächsten Busstation brauchen würde. Der Täter wollte in seiner Pedanterie auf die Sekunde genau angeben, wie weit die Wohnung von öffentlichen Verkehrsmitteln entfernt war. Als die Anzeige fertig war, rief er seinen Freund an, der sie ins Internet stellte. Er atmete tief durch und lächelte. »Jetzt wird alles leichter.« Unser Gespräch über Flucht und Tod schien er völlig vergessen zu haben.
    Am späten Vormittag
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