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3096 Tage

3096 Tage

Titel: 3096 Tage
Autoren: Natascha Kampusch
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in mir. Während mich die Männer in der Inspektion einschüchterten und ich ihnen mit größter Wachsamkeit begegnete, fühlte ich, dass ich mich bei einer Frau ein bisschen fallen lassen könnte. Ich hatte schon so lange keine Frau mehr gesehen, dass ich sie fasziniert musterte. Ihre dunklen Haare waren seitlich gescheitelt, eine helle Strähne lockerte sie auf. An ihrer Halskette baumelte ein herzförmiger Anhänger aus Gold, in ihren Ohren funkelten Ohrringe. Ich fühlte mich gut aufgehoben bei ihr.
    Dann begann ich zu erzählen. Von Anfang an. Die Worte strömten geradezu aus mir heraus. Mit jedem Satz, den ich über meine Gefangenschaft äußerte, fiel etwas Gewicht von mir ab. Als würde es dem Grauen seinen Schrecken nehmen, wenn ich es in dieser nüchternen Amtsstube in Worte fasste und in ein Protokoll diktierte. Ich erzählte ihr, wie sehr ich mich nun auf ein selbstbestimmtes, erwachsenes Leben freute; dass ich eine eigene Wohnung wollte, einen Job, später eine eigene Familie. Schließlich hatte ich fast das Gefühl, eine Freundin gewonnen zu haben. Am Ende der Vernehmung schenkte mir die Polizistin ihre Uhr. Für mich war das ein Gefühl, als sei ich nun tatsächlich wieder Herrin über meine Zeit. Nicht länger fremdbestimmt, nicht länger abhängig von einer Zeitschaltuhr, die mir diktierte, wann es hell, wann es dunkel war.
    »Bitte geben Sie keine Interviews«, bat ich sie, als sie sich verabschiedete, »aber wenn Sie doch mit den Medien über mich sprechen, sagen Sie doch bitte etwas Nettes über mich.«
    Sie lachte: »Ich verspreche Ihnen, dass ich keine Interviews gebe - wer sollte mich schon fragen!«
    Die junge Polizistin, der ich mein Leben anvertraut hatte, hielt ihr Wort nur wenige Stunden lang. Schon am nächsten Tag war sie dem Druck der Medien nicht mehr gewachsen und plauderte im Fernsehen Details meiner Vernehmung aus. Später entschuldigte sie sich dafür bei mir. Es tat ihr furchtbar leid, aber wie alle war sie mit der Situation überfordert.
    Auch ihre Polizeikollegen in Deutsch-Wagram gingen mit einer bemerkenswerten Naivität an die Sache heran. Niemand war auf den Rummel vorbereitet, den das Durchsickern der Nachricht meiner Selbstbefreiung auslöste. Während ich nach der ersten Vernehmung den Plan abarbeitete, den ich seit Monaten für diesen Tag geschmiedet hatte, gab es in der Polizeistation kein Konzept, das man aus der Schublade hätte holen können. »Bitte informieren Sie nicht die Presse«, wiederholte ich immer wieder. Aber sie lachten nur: »Hier kommt doch keine Presse her.« Doch sie täuschten sich gewaltig. Als ich am Nachmittag in die Polizeidirektion nach Wien gebracht werden sollte, war das Haus schon umstellt. Ich war zum Glück geistesgegenwärtig genug, um eine Decke zu bitten und sie mir über den Kopf zu legen, bevor ich aus der Polizeiinspektion trat. Aber selbst darunter konnte ich das Blitzlichtgewitter erahnen. »Natascha! Natascha!«, hörte ich von allen Seiten rufen. Von zwei Polizisten gestützt, stolperte ich, so schnell es ging, auf das Auto zu. Das Foto meiner weißen, fleckigen Beine unter der blauen Decke, die nur einen Streifen meines orangen Kleides freigab, ging um die ganze Welt.
    Auf der Fahrt nach Wien erfuhr ich, dass die Fahndung nach Wölfgang Priklopil auf Hochtouren lief. Man hatte das Haus durchsucht, aber niemanden vorgefunden. »Es ist eine Großfahndung eingeleitet«, erklärte mir einer der Polizisten. »Wir haben ihn noch nicht, aber jeder Beamte, der Beine hat, ist mit diesem Auftrag beschäftigt. Der Täter kann sich nirgendwohin absetzen, schon gar nicht ins Ausland. Wir werden ihn fassen.« Von diesem Moment an wartete ich auf die Nachricht, dass Wolfgang Priklopil sich umgebracht hatte. Ich hatte eine Bombe gezündet. Die Zündschnur brannte, und es gab keine Möglichkeit, sie zu löschen. Ich hatte das Leben gewählt. Für den Täter blieb nur der Tod.
     
    * *  *
     
    Ich erkannte meine Mutter sofort, als sie die Polizeidirektion Wien betrat. 3096 Tage waren seit dem Morgen vergangen, an dem ich grußlos die Wohnung am Rennbahnweg verlassen hatte. Achteinhalb Jahre, in denen es mir das Herz zerrissen hatte, dass ich mich nie entschuldigen konnte. Eine ganze Jugend ohne Familie. Acht Weihnachten, alle Geburtstage vom elften bis zum achtzehnten, unzählige Abende, an denen ich mir ein Wort von ihr, eine Berührung gewünscht hatte. Jetzt stand sie vor mir, fast unverändert, wie ein Traum, der sich ganz plötzlich in der
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