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272 - Dieser Hunger nach Leben

272 - Dieser Hunger nach Leben

Titel: 272 - Dieser Hunger nach Leben
Autoren: Christian Schwarz
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zähflüssige Harz aus dem Kanister über den Brocken laufen.
    Der Major hielt den Atem an. Für einen Moment fürchtete er, der seltsame Stein würde sich wehren, irgendwelche Strahlen verschießen, explodieren… was auch immer. Aber nichts geschah. Das Harz umfloss den Stein und verhärtete sofort. Es bildete einen bräunlich-transparenten Mantel, durch den das rote Pulsieren noch immer gut sichtbar war.
    »Übergießt auch die Unterseite!«, blaffte Hahn. »Los - dreh den Stein um!«
    Der Arbeiter starrte den Major mit großen Augen an. Er schluckte ein paar Mal hektisch.
    »Mach schon.« Hahn legte die Hand auf den Griff seiner Pistole.
    Der Arbeiter begann zu zittern. Seine Lippen bewegten sich lautlos, als er das Vaterunser betete. Langsam beugte er sich nach vorne. Seine Hand zuckte unkontrolliert, als er sie dem Stein näherte. Dann zog er sie wieder zurück.
    Hahn stieß ihn. Mit einem schrillen Schrei taumelte der Mann - und fiel über den Stein!
    Nichts geschah. Das Harz schützte ihn! Wimmernd rollte sich der Unglückliche herunter und blieb seitlich verkrümmt im Schnee liegen. Eine Wache versetzte ihm ein paar brutale Fußtritte. Schneewolken stoben hoch.
    Eine Viertelstunde später war der rot leuchtende Steinbrocken komplett in das Kunstharz eingeschlossen. Hahn informierte seinen obersten Vorgesetzten, Geheimdienstchef Wilhelm Canaris. Der wiederum setzte sich mit dem »Ahnenerbe« in Verbindung.
    So kam es, dass Hahn bald darauf den Reichsführer SS, Heinrich Himmler, höchstpersönlich am Telefon hatte. Er bekam Anweisung, den Stein und die versteinerte Frau so schnell wie möglich nach Berlin zu transportieren. Noch am selben Abend startete ein ziviler Lkw ohne äußerlichen Begleitschutz in Richtung Reichshauptstadt. Unauffälligkeit hieß die Devise in diesen schlimmen Zeiten.
    ***
    Paderborn / Wewelsburg, Nordrhein-Westfalen, Januar 1945
    Paul Kraft saß beim Frühstück und schaute zum Fenster hinaus. Der Schnee rieselte leise auf die schmale Straße vor dem kleinen Häuschen in der fast leeren Paderborner Innenstadt. Dass sich seine ansonsten sprichwörtlich gute Laune in den letzten Tagen arg in Grenzen hielt, hatte nur zum Teil mit dem Sauwetter zu tun, denn Kraft hasste Schnee. Vielmehr nervte ihn Heinrich Himmler fast täglich mit neuen Anfragen. Natürlich. Dem Alten ging längst der Arsch auf Grundeis, denn der Krieg ging langsam aber sicher verloren.
    »Kraft, prüfen Sie nach, wie die Gefechte an der Ostfront ausgehen. - Kraft, seien Sie so nett, nachzuprüfen, ob wir den Iwan zurückschlagen können. - Kraft, ich brauche eine baldmöglichste Aussage darüber, mit welchen Waffen der Krieg doch noch zu gewinnen ist. Prüfen Sie das.«
    Mit »prüfen« meinte Himmler Krafts Gabe der Hellseherei. Seit über sechs Jahren arbeitete der Reichsführer SS nun eng mit dem einstigen Metzger zusammen, der schon früh seine Fähigkeiten als Medium entdeckt hatte. Seine Vorhersagen trafen zu über achtzig Prozent derart präzise ein, dass er innerhalb kurzer Zeit eine Berühmtheit im gesamten Großdeutschen Reich geworden war. Selbst der berühmte Eric Jan Hanussen hatte 1930 um Krafts Freundschaft gebuhlt. Gerade mal ein halbes Jahr hatte es gedauert, bis Kraft Hanussen als reinen Scharlatan entlarvt und sich wieder von ihm getrennt hatte. Hanussen war längst tot, 1933 von der SS umgebracht, weil er Jude gewesen war. Da hatte ihm all seine Nähe zu den Nazis nicht geholfen.
    Immerhin war es Hanussens Verdienst, Paul Kraft mit dem abgedrehten Weisthor bekannt gemacht zu haben. Weisthor hieß in Wirklichkeit Karl Maria Wiligut und war Himmlers engster Vertrauter gewesen, sein okkulter Einflüsterer und Astrologe. Auch dieser Verrückte war längst weg vom Fenster, denn wegen seiner Medikamenten- und Alkoholsucht war er nicht mehr in der SS zu halten gewesen.
    Aber er, Paul Kraft, war immer noch da. Denn im Gegensatz zu all diesen Bescheuerten war er ein echtes Medium. Es gelang ihm immer wieder, Kontakt zu einer übergeordneten Ebene herzustellen, aus der ihm die gewünschten Bilder zuflossen. Aber auf Zuruf funktionierte das nicht - auch wenn Himmler das gerne gehabt hätte. Kraft brauchte mindestens sechs Wochen Pause zwischen den einzelnen Seancen, sonst konnte er den Kontakt in die Überwelt nicht wieder herstellen; zumindest bekam er verfälschte Ergebnisse.
    Weil Himmler momentan aber noch weniger als sonst mit sich spaßen ließ und unbedingt Positives hören wollte, fütterte ihn Kraft
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