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272 - Dieser Hunger nach Leben

272 - Dieser Hunger nach Leben

Titel: 272 - Dieser Hunger nach Leben
Autoren: Christian Schwarz
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worden. Aber eben nur fast: Eine kleine Eigenbewegung war ihm geblieben. Mit dieser driftete er nun weiter und erfasste dabei seine Umgebung - in der er der einzige stoffliche Körper zu sein schien, denn alle anderen Erscheinungen, die er ausmachte, waren kaum mehr als unbewegliche, blau glimmende Linien: die substanzlosen Abdrücke aller Materie, die diesen Raum durchquert hatte.
    In der Folge, die nicht in Zeit zu messen war, kam Stein an vielen hundert solcher Blaupausen vorbei, ohne sie je zu berühren. Dann aber tauchte der Abdruck eines Segelschiffs vor ihm auf; er entnahm den Begriff den Erinnerungen Paulkrafts und der Frau, deren Lebenskraft er assimiliert hatte. Stein trieb direkt darauf zu - und kollidierte schließlich mit dem Bug!
    Im selben Augenblick geschah etwas Bemerkenswertes.
    In der Blaupause steckte kaum Energie - doch als Stein mit ihr verschmolz, ging ungewollt seine eigene auf das Gebilde über. Plötzlich gewann das Schiff - und alles, was sich darauf befand - an Substanz!
    Stein wusste nichts von der Funktion des Strahls, sah das Verhängnis also auch nicht kommen. Und selbst wenn, er hätte es nicht verhindern können.
    Als die Karavelle durch Stein teilweise materialisierte, wurde es für den Strahl zum normalen Transportobjekt, das mit der Eigengeschwindigkeit des Siliziumbrockens weiter durch den Strahl driftete. Und als die Stein/Schiff-Symbiose irgendwann den Rand des Raumzeittunnels erreichte, durchdrang sie ihn - und stürzte hinab ins irdische Meer.
    Die Karavelle war in der Zukunft angekommen.
    ***
    Alanta-See, August 2525
    Wo bin ich?
    Das Siliziumwesen nahm den plötzlichen Ortswechsel mehr erstaunt als besorgt zur Kenntnis. Noch hafteten genug Tachyonen in und an seinem Körper, um ihn die nächste Zeit zu ernähren; an einem Körper, dessen Fläche und Masse sich vervielfacht hatte. Denn die Verschmelzung mit dem Schiff blieb auch in dieser, der ursprünglichen Welt bestehen.
    Allerdings war es ein Körper, der seltsam halbstofflich auf den Wellen des Mittelmeers trieb. Steins Energielevel erwies sich als nicht ausreichend, um die neue Gesamtheit vollständig zu materialisieren.
    Erst jetzt stellte das Siliziumwesen fest, dass sich auf dem Schiff ebenfalls Menschen aufhielten! Auch sie wurden von seiner siebendimensionalen Schwingung durchdrungen, und nun, da der Stein/Schiff/Mensch-Körper aus dem Strahl gefallen war, bewegten sie sich plötzlich!
    Stein sah ihnen fasziniert zu. Und spürte gleichzeitig, dass es ein Teil von ihm selbst war, der sich bewegte! Ein unbeschreibliches Gefühl, das er nie zuvor empfunden hatte. All diese Menschen waren ein Teil von ihm geworden! Er suchte in den Erinnerungen Paulkrafts nach einem Vergleich - und fand ihn. Diese Menschen waren wie Hunde an der langen Leine ihres Herrn. Sie bewegten sich mit eigenem Willen in alle Richtungen, wenn der Herr sie ließ, ohne ihm je entkommen zu können. Zog er an der Leine, mussten sie tun, was er wollte.
    Stein beobachtete weiter. Der einzige Mann auf Deck war an das Steuerrad gebunden und darüber zusammengesackt. Nun tastete er vorsichtig über das Holz und richtete seinen Oberkörper langsam auf. Die anderen Menschen befanden sich im Schiffsinnern in einem großen Verschlag mit Brettertür. Zwei von ihnen saßen auf dem Boden und hielten sich fest umklammert. Frauen. Sie rieben ihre Wangen aneinander. Ein Mann war in eine Kutte gekleidet und hatte eine Kapuze über den Kopf gezogen. Er lag mit ausgebreiteten Armen und Beinen bäuchlings über einem anderen Mann, der schulterlanges helles Haar und stechende Augen besaß und versuchte, den über ihm Liegenden von sich zu schieben. Ein weiterer Mann klammerte sich an die eisernen Gitterstäbe, die in die rechteckige Luke in der Tür eingelassen waren.
    Stein beschloss, Kontakt zu der Mentalsubstanz der Menschen aufzunehmen. Er würde sie sich einzeln vornehmen. Zuerst filterte er die Mentalströme des Mannes an Deck aus.
    Mein Name ist Antonio Rodriguez. Ich bin der Capitán der Doña Filipa. Mutter, ich habe Angst. Beschützt mich. Die Hölle tut sich mit blauem Glanz vor mir auf…
    Stein war verwirrt. Der Mensch Rodriguez behauptete Angst zu haben, aber er hatte keine! Denn Rodriguez war anders als Paulkraft und die Frau, die er versteinert hatte. Die waren voller Gefühle gewesen; der Mensch Rodriguez aus dem blauen Feld hingegen besaß nicht das geringste Gefühl. Und keine Emotion, die daraus resultiert hätte. Er war kalt in jeder Beziehung.
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