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272 - Dieser Hunger nach Leben

272 - Dieser Hunger nach Leben

Titel: 272 - Dieser Hunger nach Leben
Autoren: Christian Schwarz
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Seelenlos , wie Paulkraft es genannt hätte.
    Aber Angst ist ein Gefühl. Wie kann er Angst haben, wenn er keine Gefühle erzeugt? Das ist nicht logisch.
    Rodriguez bemerkte, dass ihn Steins Mentalschwingungen berührten. Langsam hob er den Kopf. Seine langen strähnigen Haare umrahmten ein hageres Gesicht mit einem schmalen Kinnbart. Rodriguez schaute sich um, verharrte dann, schien in sich hinein zu lauschen.
    Mutter, seid Ihr das?
    Ja, ich bin es , antwortete Stein . Konnte er mit dieser Antwort beim Menschen Rodriguez nun Freude, vielleicht sogar eine Emotion erzeugen?
    Ich habe Angst. Bitte beschützt mich, Mutter, auch wenn ich euch im Stich gelassen habe. Ich sehe die Hölle vor mir.
    Aber da war noch immer keine Angst. Und auch keine Freude. Nichts. Stein wandte sich dem nächsten Menschen zu. Es war der Mann mit der Kutte.
    Ich bin Bartolomé de Quintanilla. Mein Leben habe ich den Dominikanern und somit dem Herrn geweiht. Allzeit arbeite ich daran, arme Heidenkinder zu guten Christen zu machen. Auch wenn es weh tut, dass niemand meiner Brüder und Schwestern die persönliche Aufopferung zu sehen vermag, die ich damit verbinde. Heilige Muttergottes, gib mir Kraft…
    Auch Bartolomé war kalt. Keinerlei Schmerz war in ihm. Was würde Stein aus der Mentalsubstanz des Menschen erfahren, der unter ihm lag?
    Mein Name ist Don Alejandro de Javier. Das Leben an Deck ist langweilig. Es macht mich wütend. Denn ich will würfeln, bis dass der letzte Lebensfunke aus mir schwindet! Ich sehe dich dort oben in der Mastspitze sitzen, Jungfrau Maria im Lichtkranz! Steige herunter und würfle mit mir!
    Keine Wut war in de Javier.
    Stein begriff diesen offensichtlichen Widerspruch nicht. So beschloss er nun, zum ersten Mal zu allen Menschen zu sprechen. Und da ihn Rodriguez als Mutter benannt hatte, blieb er bei diesem Namen, der offenbar eine übergeordnete Bedeutung besaß.
    Hier spricht Mutter, meine Kinder. Ich habe einen Auftrag für euch. Entfernt die Hülle, die mich einschließt. Sie stört mich.
    »Die Muttergottes spricht wieder zu uns«, wisperte Bartolomé, als hätte sie das schon viele tausend Male zuvor getan. Er wandte sich an den ungehobelten Hünen, der an der Tür des Verschlages stand. »He, Maxim! Du hast die Stärke von fünf Ochsen. Befreie Mutter !«
    Maxim sah den Dominikaner ausdruckslos an. »Mach ich, klaa. Aber wo is Mutter ?«
    »Ich weiß es nicht. Mutter , wo finden wir Euch?«
    Ich leite euch.
    Gleich darauf schritten Maxim, de Quintanilla, de Javier und Miguel Nuenzo durch die Laderäume der Karavelle. Nachdem sie einige Planken entfernt hatten, sahen sie auf den rot leuchtenden, pulsierenden Brocken hinab, der die Bordwand halb durchdrungen hatte und nun darin feststeckte.
    Keiner von ihnen schien von Mutters Gestalt überrascht zu sein. Mit vereinten Kräften versuchten sie das Harz zu lösen. Es gelang ihnen nicht. Der leuchtende Brocken war genauso halbstofflich wie der Rest des Schiffes und ihre Hände und Werkzeuge gingen einfach durch ihn hindurch.
    Geht wieder , befahl Mutter schließlich.
    Widerspruchslos entfernten sich die Helfer, stiegen an Deck und kauerten sich irgendwo nieder. Nur der Dominikaner, der schon zuvor ein wenig gezögert hatte, ging auf und ab und beugte sich ein paar Mal über die Reling.
    »Wir alle sind so düster wie Schatten. Auch die Karavelle gleicht einem großen dunklen Schatten«, sagte er.
    Mutter gefiel dieser Vergleich. Tatsächlich erschien die Blaupause in dieser Welt als dunkler Abdruck. Sie beschloss, die Menschen von nun an »Schatten« zu nennen.
    Dass der Schatten de Quintanilla mehr Erinnerungen zu kombinieren schien als die anderen, kümmerte sie momentan nicht. Etwas anderes war wichtiger. Mit Sorge registrierte Mutter , dass die fehlgeschlagene Befreiungsaktion vom Harz einiges an Energie gekostet hatte - Energie, die dem Kollektiv nun fehlte und die es schwächer machte.
    Was kann ich tun? Hier auf dem Wasser finde ich keine siebendimensionalen Schwingungen, die mich nähren könnten. Die blauen Teilchen werden irgendwann aufgebraucht sein. Ich muss mich also von menschlicher Energie ernähren.
    Dazu ist es aber notwendig, dass das Harz um mich verschwindet; nur so komme ich in direkten Kontakt mit den Menschen. Vielleicht lässt es sich entfernen, wenn ich wieder vollstofflich bin - doch dafür brauchte ich sehr viel Energie. Ein Teufelskreis, wie Paulkraft sagen würde …
    Aber halt, eine Möglichkeit gäbe es vielleicht doch! Meine
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