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2666

2666

Titel: 2666
Autoren: Roberto Bolaño
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Gesprächsführung zu eigen machen), in Empfehlungen für Filme, in leidenschaftslose Kommentare zu Neuerscheinungen, kurz, ein eher einschläferndes oder wenigstens lustloses Telefongespräch, das Espinoza jedoch mit eigenartiger oder vorgetäuschter Begeisterung oder Zärtlichkeit verfolgte, jedenfalls mit zivilisiertem Interesse, und das Morini abspulte, als wenn sein Leben davon abhinge, und auf das nach zwei Tagen oder ein paar Stunden ein Anruf nach mehr oder weniger gleichem Muster von Espinoza bei Norton folgte, die ihrerseits Pelletier anrief, der seinerseits Morini anrief, um nach Tagen von neuem zu beginnen, transponiert in einen hochspezialisierten Code, Signifikat und Signifikant bei Archimboldi, Text, Subtext und Paratext, Rückeroberung der verbalen und körperlichen Territorialität auf den letzten Seiten von Bitzius, was im Übrigen das Gleiche war, wie über Kino zu reden oder über Probleme im Germanistischen Institut oder über die Wolken, die unablässig von morgens bis abends über ihre vier Städte hinwegzogen.
    Ende 1994 trafen sie sich beim Kolloquium über europäische Nachkriegsliteratur in Avignon wieder. Norton und Morini kamen als Zuhörer, obwohl ihre Universitäten die Reisekosten trugen, und Pelletier und Espinoza steuerten kritische Untersuchungen zur Bedeutung von Archimboldis Werken bei. Pelletiers Arbeit konzentrierte sich auf das Inselhafte, auf den Bruch mit der deutschen, nicht jedoch der europäischen Tradition, was sämtliche Bücher Archimboldis auszuzeichnen schien. Espinozas Arbeit, eine der vergnüglichsten, die der Spanier je schrieb, behandelte das Geheimnis, das die Person Archimboldis umgab, über den möglicherweise niemand, nicht einmal sein Verleger, Genaueres wusste: Biographische Angaben gab es nur wenige (deutscher Schriftsteller, geboren 1920 in Preußen), sein Wohnort war geheim, obwohl sein Verleger bei einer Gelegenheit einem Journalisten vom Spiegel gegenüber versehentlich verriet, dass ihn eins der Manuskripte aus Sizilien erreicht habe. Niemand seiner noch lebenden Kollegen hatte ihn je gesehen, es existierte auf Deutsch keine Biographie von ihm, trotzdem der Verkauf seiner Bücher stetig zunahm, sowohl in Deutschland als auch im restlichen Europa und sogar in den Vereinigten Staaten, wo man ein Faible für verschwundene (verschwundene oder steinreiche) Schriftsteller oder für Legenden von verschwundenen Schriftstellern hat und wo seine Bücher eine immer größere Verbreitung fanden, nicht nur an den germanistischen Instituten der Universitäten, sondern auf dem ganzen Campus und außerhalb des Campus, in den ausgedehnten Städten, die die mündliche oder visuelle Literatur liebten.
    An den Abenden gingen Pelletier, Morini, Espinoza und Norton gemeinsam essen, manchmal in Begleitung von ein oder zwei deutschen Professoren, die sie seit längerem kannten und die sich für gewöhnlich zeitig in ihre Hotels zurückzogen oder bis zum Schluss blieben, dann aber diskret im Hintergrund, als verstünden sie, dass die vierwinklige Figur der Archimboldianer niemanden in ihre Mitte ließ oder sich zu dieser späten Stunde sogar gegen fremde Zudringlichkeit heftig verwahren könnte. Am Ende blieben sie immer im Quartett und liefen so unbeschwert und glücklich durch die Straßen von Avignon wie seinerzeit durch die schwärzlichen Amtsstubenstraßen von Bremen oder durch die vielfältigen Straßen, die die Zukunft noch für sie bereithielt, Morini von Norton geschoben, mit Pelletier zur Linken und Espinoza zur Rechten, oder Morini, von Pelletier geschoben, mit Espinoza neben sich, und Norton, die rückwärts vor ihnen herging und sie mit dem Vollmaß ihrer sechsundzwanzig Jahre anlachte, ein großartiges Lachen, das sie sogleich nachahmten, obwohl sie es sicherlich vorgezogen hätten, nicht zu lachen und sie nur anzuschauen, oder die vier standen nebeneinander am Ufermäuerchen eines pittoresken Flusses, eines nicht mehr wildlebenden Flusses also, sprachen über ihre deutsche Obsession, ohne einander zu unterbrechen, trainierten und genossen die Intelligenz des anderen, abwechselnd mit längeren Phasen des Schweigens, denen nicht einmal der Regen beikommen konnte.
    Als Pelletier Ende 1994 aus Avignon zurückkehrte, als er die Tür seiner Pariser Wohnung öffnete, die Koffer abstellte und die Tür hinter sich schloss, als er sich ein Glas Whisky eingoss, die Vorhänge aufzog und die altbekannte Aussicht vor sich sah, ein Fragment der Place de Breteuil und das
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