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2666

2666

Titel: 2666
Autoren: Roberto Bolaño
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einmal Morini, der sich in der deutschen Gegenwartsliteratur ziemlich gut auskannte, ob er nun am Kolloquium teilnahm oder nicht.
    Und als der blässliche Schriftsteller, ein Schwabe, in seinem Kolloquiumsbeitrag von seinem Werdegang als Journalist, als Feuilletonseitenfüller und Interviewer aller irgendwie schöpferisch tätigen und Interviews hassenden Menschen erzählte und zuletzt auf die Zeit zu sprechen kam, da er in abgelegenen oder, im Klartext, hinterwäldlerischen, aber kulturbeflissenen Gemeinden als Kulturbeauftragter arbeitete, fiel plötzlich der Name Archimboldi, an den er vermutlich durch die vorangegangene, von Espinoza und Pelletier geleitete Gesprächsrunde erinnert wurde und den er kennengelernt hatte, als er in einem friesischen Städtchen nördlich von Wilhelmshaven mit Blick auf Nordsee und Ostfriesische Inseln den Posten des Kulturbeauftragten bekleidete, in einer Gegend, wo man immer mit der Kälte zu kämpfen hatte, mit eisiger Kälte, aber noch mehr mit der Feuchtigkeit, einer salzigen Feuchtigkeit, die einem in die Knochen kroch, und wo es nur zwei Arten gab, den Winter zu überstehen, entweder man trank bis zur Leberzirrhose oder besuchte im Gemeindesaal des Rathauses Musikaufführungen (meist von Amateurstreichquartetten) oder Lesungen von auswärtigen Schriftstellern, die ein winziges Honorar, ein Zimmer in der einzigen Pension am Ort und ein paar Mark für die Hin- und Rückreise im Zug bekamen - in einem dieser Züge, die mit den deutschen Zügen von heute nichts mehr gemein haben, in denen die Leute aber möglicherweise gesprächiger waren, wohlerzogener, aufmerksamer gegenüber Mitreisenden -, so dass der Schriftsteller also nach Abzug sämtlicher Reisekosten nach Hause kam (was oft nicht mehr als ein Hotelzimmer in Frankfurt oder Köln war) und noch etwas Geld zurückbehielt, vielleicht auch dank des einen oder anderen verkauften Buchs im Falle der Schriftsteller oder Dichter, vor allem der Dichter, die, nachdem sie einige Seiten gelesen und die Fragen der Ortsbewohner beantwortet hatten, ihren Bauchladen aufschlugen, wie man so sagt, und sich ein paar Mark extra verdienten, was damals eine beliebte Praxis war, denn wenn den Leuten gefiel, was der Schriftsteller las, wenn es seiner Lesung gelang, sie aufzuwühlen oder zu unterhalten oder nachdenklich zu stimmen, nun, dann kauften sie ihm auch ein Buch ab, manchmal nur als Andenken an einen schönen Abend, an dem der Wind durch die Straßen der Ortschaft pfiff und die Kälte ins Fleisch schnitt, manchmal um ein bestimmtes Gedicht oder eine bestimmte Erzählung zu lesen oder noch einmal zu lesen, dann aber zu Hause, Wochen nach der Veranstaltung, oft beim Licht einer Petroleumlampe, weil es nicht immer Strom gab, wie man weiß, der Krieg war gerade erst vorbei, und die sozialen und wirtschaftlichen Wunden lagen offen, kurz, es lief mehr oder weniger so ab wie eine Lesung heute, mit der Einschränkung, dass die mitgebrachten Bücher von den Autoren im Selbstverlag veröffentlicht waren, während heute die Verlage die Bücherstände bestücken, und einer der Schriftsteller, die das friesische Örtchen besuchten, in dem unser Schwabe als Kulturbeauftragter arbeitete, war Benno von Archimboldi, ein Autor vom Format eines Gustav Heller oder Rainer Kuhl oder Wilhelm Frayn (Schriftsteller, die Morini später vergeblich in seinem Lexikon deutscher Autoren nachschlug), der keine Bücher zum Verkauf mitbrachte und zwei Kapitel aus einem Roman las, an dem er gerade schrieb, seinem zweiten, den ersten, erinnerte sich der Schwabe, hatte er noch im selben Jahr in Hamburg veröffentlicht, obwohl er nicht aus diesem Roman las, den es aber tatsächlich gab, sagte der Schwabe, und Archimboldi, als hätte er diesbezügliches Misstrauen vorausgesehen, hatte ein Exemplar mitgebracht: Ein Romänchen, rund hundert Seiten stark, vielleicht auch etwas mehr, hundertzwanzig Seiten, hundertfünfundzwanzig, das er in einer Jackentasche bei sich trug, und seltsamerweise erinnerte sich der Schwabe genauer an Archimboldis Jacke als an das Romänchen, das in einer Tasche dieser Jacke steckte, ein Romänchen mit schmutzigem, verknittertem Umschlag, der einmal in einem satten Marmorton oder bleichen Weizenfeldgelb oder zarten Gold geglänzt haben musste, jetzt aber keinerlei Farbe oder Färbung mehr aufwies, nur Titel, Autorname und Verlagssignet, die Jacke dagegen war ihm unvergesslich, eine schwarze Lederjacke mit hohem Kragen, wirksamer Schutz gegen Schnee, Regen
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