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2666

2666

Titel: 2666
Autoren: Roberto Bolaño
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großen schwarzen Hai, also dem Werk des Deutschen, herschwimmen sollte. Beide, Pelletier und Espinoza, respektierten Morinis Arbeit, doch Pelletiers Worte (gesprochen, als stünde er im Innern einer alten Burg oder im Innern des tief unter dem Wassergraben gelegenen Kerkers einer alten Burg) klangen in dem friedlichen Restaurant in der Rue Galande wie eine Drohung und trugen dazu bei, einen Schlusspunkt hinter einen Abend zu setzen, der unter der Ägide von Höflichkeit und erfüllten Wünschen begonnen hatte.
    Nichts davon trübte das Verhältnis, das Pelletier und Espinoza mit Morini verband.
    Alle drei trafen sich 1993 wieder, auf einer Konferenz über deutschsprachige Literatur in Bologna. Und alle drei waren an Heft 46 der Werkstudien beteiligt, einer Berliner literaturwissenschaftlichen Zeitschrift, die sich ausschließlich mit Archimboldi befasste. Es war nicht die erste Zusammenarbeit mit der Berliner Zeitschrift. Heft 44 hatte einen Aufsatz von Espinoza zur Gottesvorstellung bei Archimboldi und Unamuno gebracht. In Heft 38 war ein Artikel von Morini über die Situation deutscher Literatur an italienischen Universitäten erschienen. Und zu Heft 37 hatte Pelletier einen Ausblick auf die für Frankreich und Europa wichtigsten deutschen Autoren des zwanzigsten Jahrhunderts beigesteuert - ein Text, der, nebenbei gesagt, für einige, zum Teil wütende, Proteste gesorgt hatte.
    Wichtig für uns jedoch ist Heft 46, in dem nicht nur die Existenz zweier antagonistischer Flügel der Archimboldi-Forschung offenkundig wurde - Pelletier, Morini und Espinoza auf der einen Seite, Schwarz, Borchmeyer und Pohl auf der anderen -, sondern in dem vor allem ein Text von Liz Norton erschien - den Pelletier glänzend, Espinoza überzeugend und Morini interessant fand -, der sich (ohne dass jemand sie darum gebeten hatte) hinter die Positionen des Franzosen, des Spaniers und des Italieners stellte, die drei mehrfach zitierte und damit bewies, dass sie ihre in Fachzeitschriften und Kleinverlagen erschienenen Arbeiten und Monographien genauestens kannte.
    Pelletier war kurz davor, ihr zu schreiben, tat es dann aber doch nicht. Espinoza rief Pelletier an und fragte, ob es nicht ratsam wäre, sich mit ihr in Verbindung zu setzen. In ihrer Unsicherheit beschlossen sie, Morini zu fragen. Morini enthielt sich jeglichen Kommentars. Das Einzige, was sie von Liz Norton wussten, war, dass sie an einer Londoner Universität deutsche Literatur unterrichtete. Und dass sie im Gegensatz zu ihnen keine Professur innehatte.
    Der Literaturkongress in Bremen verlief turbulent. Zum Entsetzen der deutschen Archimboldianer ging Pelletier mit Morinis und Espinozas Schützenhilfe wie Napoleon bei Jena überraschend zum Angriff über, und binnen kürzester Zeit retirierten die besiegten Fähnlein von Pohl, Schwarz und Borchmeyer in wilder Flucht in die Bremer Cafés und Kneipen. Die jüngeren unter den anwesenden deutschen Professoren reagierten zunächst verdutzt, ergriffen dann aber - bei allem Vorbehalt, versteht sich - Partei für Pelletier und seine Freunde. Die Kongressbesucher, mehrheitlich Angehörige der Universität Göttingen, die mit Bus und Bahn angereist waren, votierten ebenfalls und ohne jeden Vorbehalt für Pelletiers genauso fulminante wie lapidare Interpretationen, hingerissen von der dionysischen, festlichen Vision, von Exegese von letztem (oder vorletztem) Karneval, für die Pelletier und Espinoza eintraten. Zwei Tage später gingen Schwarz und seine Adlaten zum Gegenangriff über. Sie hielten Archimboldi einen Heinrich Böll entgegen und sprachen von Verantwortung. Sie hielten Archimboldi einen Uwe Johnson entgegen und sprachen von Leiden. Sie hielten Archimboldi einen Günter Grass entgegen und sprachen von gesellschaftlichem Engagement. Borchmeyer hielt Archimboldi sogar einen Friedrich Dürrenmatt entgegen und sprach von Humor, was Morini wie der Gipfel der Frechheit vorkam. Dann erschien wie durch glückliche Fügung Liz Norton und schlug den Gegenangriff im Stile eines Desaix oder eines Lannes zurück, eine blonde Amazone, die ein perfektes, allenfalls etwas zu schnelles Deutsch sprach und über Grimmelshausen, Gryphius und viele andere vortrug, unter anderem auch über Theophrastus Bombastus von Hohenheim, besser bekannt unter dem Namen Paracelsus.
    Noch am gleichen Abend aßen sie gemeinsam in einem schmalen, langgezogenen Souterrainlokal nicht weit vom Fluss - in einer dunklen, von alten hanseatischen Häusern gesäumten
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