Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
266 - Das Todesschiff

266 - Das Todesschiff

Titel: 266 - Das Todesschiff
Autoren: Ronald M. Hahn
Vom Netzwerk:
der Scheinwerfer vor ihnen ausbreitende Landstraße schien endlos zu sein. Bootsmann Friedrichsen brauste an Strommasten und Tannen vorbei und pfiff Lili Marleen .
    Das ständige Buff-Buff! der Geschütze hinter ihnen wurde lauter. Bald beeinflusste es Hassos Denken. Er dachte an seinen letzten unpathetischen Abschied zu Hause. Er hatte seine Eltern seit einem Jahr nicht mehr gesehen. Wie mochte es jetzt wohl auf dem Gut seiner Familie aussehen? Waren die Pferde noch da oder hatte man sie eingezogen? Waren die Leute noch da oder marschierten sie jetzt mit dem Volkssturm gegen einen Gegner, den man nicht mehr besiegen konnte?
    Sein Vater war ein hochkarätiger Wissenschaftler, der gewisse Privilegien genoss. Blödsinnigerweise hatte er dem westpreußischen Gauleiter des Öfteren mitgeteilt, was er von seinen ungehobelten und ungebildeten Lakaien auf dem Lande hielt. Da war es nicht auszuschließen, dass der eine oder andere gerüffelte Parteigenosse nur darauf wartete, dem »Adelspack« die Zähne zu zeigen und zu beschlagnahmen, was zu beschlagnahmen war.
    Die Zeiten waren hart, die Lage kaum überschaubar. Vermutlich nutzten nun manche Menschen die Gunst der Stunde, um sich an jenen zu rächen, die ihrer Karriere bisher im Weg gestanden hatten.
    Sein Vater hatte viele Nazis vor den Kopf gestoßen. Wer dem Herrn Professor und seinem Rittergut schaden wollte, brauchte ihm nur das Personal zu nehmen: Ein Unternehmen wie das seine musste ohne Fachkräfte untergehen.
    Buff! Buff! Buff!
    Friedrichsen fluchte. Hasso spürte das Beben des Bodens.
    Die Einschläge kamen näher. Doch für Angst hatte er keine Zeit. Er hätte gern gewusst, wie nahe ihnen die Panzer der Roten Armee schon waren, aber für sein Seelenheil war es wohl besser, nach vorn zu schauen.
    Sie holten die ersten Flüchtlinge ein: von Menschen und Pferden gezogene Handkarren und Leiterwagen, auf denen sich Kinder und Möbel türmten. Alle bemühten sich redlich, im Schnee voranzukommen. Wenn ein Gaul stürzte, war es für die Nachfolgenden erst mal aus: Wer zum Hindernis wurde, wurde von den Menschen nicht mehr toleriert.
    Die Schlange war lang. Hasso atmete auf, als sie an ihr vorbei waren. Schließlich erreichten sie die Chaussee zur Kreisstadt Rosenberg. Tausende waren hier unterwegs: Frauen jeden Alters, Greise, Kinder, Kranke. Und auch Soldaten, einzeln oder in kleinen Gruppen. Alle wollten sich in Sicherheit bringen.
    Die Straße und das Elend nahmen kein Ende. Sie passierten tote Pferde, Hunde, Schafe und Hühner. Dann und wann kamen sie an einem umgekippten Leiterwagen vorbei, dessen Ladung sich über die Straße ergossen hatte. Die Menschen, die dazugehörten, luden sich auf die Schultern, was sie tragen konnten, und gingen dann zu Fuß weiter. Neidische Blicke musterten den müden Marineoffizier und seinen Fahrer. Wie gut sie es doch hatten! Sie konnten sich von einer knatternden Maschine übers Land tragen lassen. Die Menschen taten Hasso leid. Hin und wieder fragte er sich auch, wie viele dem Führer früher zugejubelt hatten. Kriegten sie nun ihre gerechte Strafe?
    Und was erwartet mich? Hasso knirschte mit den Zähnen. Sein Blick fiel auf eine erschöpfte junge Frau mit blondem Haar, die am Straßenrand auf ihrem Gepäck saß und ihn aus traurigen blauen Augen anschaute. Schon waren sie an ihr vorbei. Erneut fühlte sich Hasso an Leonie erinnert. Sie war die beste Freundin seiner Schwester gewesen, fünf Jahre älter als er und deswegen für ihn unerreichbar. Seit seinem elften Lebensjahr spukte sie in seinem Kopf herum. Hasso hatte sie seit sechs Jahren nicht mehr gesehen, und doch verging kein Monat, in dem er nicht wenigstens einmal voller Wehmut an sie dachte. Stand ihm ein Urteil über sie zu?
    Plötzlich spürte er die Kälte im Inneren des Wagens doppelt stark. Es war wohl besser, wenn er sich kein Urteil über Leonie anmaßte. Noch nicht. Auch wenn sie ein Nazi war.
    »Ich glaub, da vorn ist die Treckspitze«, sagte Bootsmann Friedrichsen. Sie fuhren an einem schwer beladenen Leiterwagen vorbei. Vier starke Gäule zogen ihn. Hasso drehte sich um. Er sah Gesichter, die ihm vage bekannt vorkamen. Nachbarn? Bevor ihm einfiel, wer sie vielleicht waren, waren sie an ihnen vorbei.
    Sie brachten Kilometer für Kilometer hinter sich. Dann wich das Schwarz der Nacht. Der Himmel ergraute. Sie holten einen weiteren Treck ein. Hunderte von Menschen wanderten bleich und spitznasig durch die verschneite Landschaft. Schließlich hörte es auf zu
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher