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265 - Das letzte Tabu

265 - Das letzte Tabu

Titel: 265 - Das letzte Tabu
Autoren: Manfred Weinland
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in sich erstickte und noch so vielen den Eintritt ins Diesseits verwehrte, konnte er nur noch Abscheu für ihn empfinden.
    Das bin nicht ich, der das denkt , dachte er hilflos. Ich würde den Strahl nie verachten. Er ist ein Wunder. Die Blaupausen darin sind nur -
    Es war, als würde Audrey in seinen Augen im Halbdämmer lesen, was ihn bewegte. Seinen inneren Zwiespalt. Ihre Hand zog ihn zu sich. Ihre Pupillen, wo andere nur Leere gesehen hätten, waren ein Füllhorn voller Inspiration. Er versank darin. Ließ die Qualen hinter sich. Verlor abermals Kraft, aber lange nicht so viel, als dass sein Leben in Gefahr geriet.
    Sein Leben.
    Er scheute die Frage, was davon noch geblieben war.
    Es war so reich.
    So…
     
    Er erwachte. Audrey lag neben ihm, sie war da. Dem Geist des Waldes sei Dank!
    Jemand klopfte an die Tür.
    Graulicht stand fahrig auf. Sein Herz hämmerte. Er war nackt, genau wie Audrey. Schnell breitete er eine Decke über ihren wundervollen Körper und schlüpfte in seine Sachen.
    Draußen stand nicht, wie erwartet, seine Mutter, sondern sein Vater, der ihn zunächst nicht anschaute, sondern an ihm vorbei zu der Schlafenden sah. Ausdruckslos wechselte sein Blick dann zu Graulicht.
    »J-ja?«, fragte der innerlich bebend. »Es ist etwas passiert«, sagte sein Vater, der sich bemühte, nichts von dem Sturm der Gefühle, der in ihm tobte, nach außen dringen zu lassen. Aber er war sein Vater. Und Graulicht kannte jede Nuance seiner Körpersprache.
    »Was?«, fragte er rau.
    »Du siehst es dir besser an.«
    Graulicht warf einen schnellen Blick zu Audrey, die entweder schlief oder sich schlafend stellte. Dann folgte er seinem Vater, der bereits die Stufen nach unten stieg.
    All seine Befürchtungen wurden von dem, was ihn erwartete, übertroffen. Sein Vater führte ihn ein gutes Stück weit weg von ihrem Baumhaus, weg von allen Häusern der Siedlung. Erst draußen im Wildwuchs des Waldes lenkte er ihre Schritte zu der Stelle, die schon etliche andere Waldleute angelockt hatte.
    Graulicht sah Mienen, in denen blankes Entsetzen stand. Es waren Spiegel seines eigenen Gesichts, als er bei der Leiche ankam. Übelkeit wie beim Anblick Lobsangs in Audreys Fängen überkam ihn. Aber diesmal gelang es ihm, den Würgereiz zu unterdrücken.
    Der mumifizierte Tote lehnte gegen den Stamm eines mächtigen Baumes. Die spröde Starre hinderte ihn daran, hinzusinken.
    »Erkennst du ihn?«, fragte Graulichts Vater. »Es ist Blauschorf, dein Onkel. Er saß gestern noch mit uns zusammen…«
    ***
    Graulicht wusste nicht mehr, wie genau er das Familienbaumhaus erreichte. Er war gerannt, davon zeugte schon seine Atemlosigkeit. Aber keiner der Schritte, die er bewältigt hatte, waren ihm im Gedächtnis haften geblieben. Nur der Anblick seines Onkels, dessen Tod zum Himmel schrie.
    Ich bin ein Monster. Weil ich ein Monster zu ihnen gebracht habe.
    Wie hatte er nur eine Sekunde glauben können, den Albtraum, den er losgetreten hatte, unter Kontrolle halten zu können? Er hatte den Kodex nicht nur der Wanderer, sondern auch jedes beliebigen Waldbewohners gebrochen, die von frühester Kindheit an lernten, das Leben zu achten .
    Er stürmte ins Haus, die Treppe hinauf, stieß die Tür auf und… stoppte. Die Stube war leer. Audrey war verschwunden, das Bett noch zerwühlt…
    Er wankte darauf zu, bückte sich. Es war noch warm, sie konnte noch nicht lange…
    Schritte hinter ihm. Er fuhr herum. Sein Vater war ihm gefolgt. Sein Gesicht sprach jetzt Bände.
    »War sie es?«, fragte er in einem Ton, der die Rhetorik entlarvte. »Nie zuvor sah ich einen Toten wie diesen - und ausgerechnet jetzt, wo du zu uns gekommen bist… mit ihr!«
    Schattenhafte Bewegung hinter ihm. Graulicht wollte eine Warnung rufen, aber seine Kehle war wie zugeschnürt.
    Etwas packte seinen Vater im Genick. Er wollte sich herumwerfen und den Griff abschütteln, aber da erlahmte auch schon jede Bewegung, welkte er unter ihrer Hand.
    Es dauerte nur Sekunden, dann schleuderte sie die verdorrte Mumie zur Seite. Dumpf und hohl klang der Aufprall. Graulicht war wie gelähmt.
    »Nutzlos. Sind immer so schnell… leer.« Die Stimme war grell wie der grässlichste Maschinenlaut. Graulichts Herz drohte ihm aus der Brust zu springen, so hart und schnell hämmerte es darin.
    »Du… kannst reden? Ich dachte…«
    »Denk nicht so viel. Alles ist gut. Du warst ein guter Fürsorger. Ich habe viel gelernt. Aber ich bin hungrig. Immer hungrig. Muss viel zu mir nehmen, um dem Sog zu
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