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263 - Von Menschen und Echsen

263 - Von Menschen und Echsen

Titel: 263 - Von Menschen und Echsen
Autoren: Michael M. Thurner
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Schreie des Wahnsinns geboren wurden; ein Kind mit Efrantenrüssel sog grünlich glitzernde Flüssigkeit aus dem Darm eines narbenüberzogenen Kriegers; ein Guul kaute an seinem eigenen Bein und sprach dabei ein mächtiges Magie-Mantra…
    »Und jetzt zu dir, mein Kind«, unterbrach Kaka-Gye Graos Gedanken, nun völlig ruhig. Azele hatte sich zurückgezogen. Seine - oder ihre? - Gegenwart war nicht mehr spürbar. »Wie können wir dir helfen?«
    Helfen? Ihm?
    Grao'sil'aana hatte keine Ahnung, wie er hierher gelangt war. Womöglich glitt er soeben in den Abgrund des Todes, oder er erlebte einen Vorgang, den man »Wiedergeburt« nannte.
    »Ich weiß es nicht«, sagte er.
    »Und ob du es weißt«, widersprach Kaka-Gye. Das Ochsenwesen röhrte laut und belustigt. »Sonst hätten wir dich nicht gefunden.«
    Grao'sil'aana dachte nach. Da waren Gedanken, freilich, die er für sich selbst ausformuliert hatte und die immer wieder auftauchten; einerlei, wie sehr er sich dagegen wehrte.
    »Ich habe die Antwort«, meldete sich Kaka-Gye unvermittelt.
    »Auf welche Frage…?«
    »Auf jene, die du noch stellen wirst.«
    »Ich verstehe nicht…«
    »Das habe ich auch nicht erwartet, Kleines. Doch wenn es eines Tages so weit ist: Versprichst du mir, ein Tier zu häuten, eine große Kerze in seinen Leib zu stopfen und bei einer Flasche Gegärtem darauf zu warten, bis der Körper vollends verbrannt ist?«
    Grao'sil'aana war müde. Er wollte dieses Spielchen nicht länger mitmachen. Die Erinnerungen an die Dunkelheit und an seine Situation kehrten allmählich zurück. Sie zogen ihn weg von hier, zurück in die Realität. In eine andere Form der Realität .
    »Ich verspreche es«, sagte er leichthin.
    »Kaka-Gye dankt dir. Du schenkst mir viele weitere Jahre einer Existenz in der Anderswelt.«
    »Und wie lautet nun die Antwort?«,fragte Grao'sil'aana mit gelinder Neugierde.
    »Kein Daa'mure.«
    » Wie bitte? «
    »Sie lautet: kein Daa'mure. Und nun verschwinde von hier. Ich habe mit Azele noch ein Hühnchen zu rupfen.«
    Irgendwo im Hintergrund des unbeschreibbaren Raumes gackerte Federvieh in Todesangst; seine Schreie wurden rasch leiser und verklangen in einem sanften Gemurmel.
    Grao'sil'aana fand sich in beklemmender Dunkelheit wieder, und noch bevor er sich seiner alten, neuen Situation bewusst werden konnte, traf ein greller Lichtstrahl sein Gesicht.
    3.
    Bahafaa ging ihrem Tagwerk nach. Sie brachte Wudan eine kleine Opfergabe dar, sie versenkte sich einmal mehr ohne Erfolg in die rituellen Denkübungen, sie sammelte die schmutzige Wäsche zusammen. Bei den großen Flachsteinen nahe der Klippen, die noch vor nicht einmal hundert Monden mit Blut benetzt worden waren, würde sie die wertvollen Stoffe reinigen. Es war noch früh. Die meisten Dorfbewohner saßen wohl an ihren Frühstückstischen oder kümmerten sich um die Kinder. Mit ein wenig Glück würde sie die Wascharbeit in Ruhe erledigen können.
    Bahafaa betrat den Weg, der zu den Felsen führte. Es ging durch den kleinen Mischwald, den sie so sehr liebte. Irgendwo im Geäst zwitscherte ein brünstiger Rotkraller seinen Liebesschmerz in die Welt hinaus; ein größeres Stück Wild rieb seine Seite über feuchte Rinde.
    Es war ein kalter Morgen. Bahafaas Atem gefror in der Luft. Loses Blattwerk, das der vergangene Herbst aus den Bäumen geschüttelt hatte, brach unter ihren Tritten.
    Ein Knacksen in einiger Entfernung. Sie drehte sich zur Seite, ließ den ledernen Wäschesack fallen und tastete nach ihrem Messer. Sie wusste ganz genau, welches Geräusch in den Wald gehörte, und welches nicht.
    Vorsichtig trat sie näher und blinzelte. Ihr Augenlicht war das einer alten Frau.
    »Juefaan!«, rief sie, als sie das Gesicht des schüchternen Jungen hinter einem mannshohen Baumstumpf ausmachte. Sein flachsblondes Haar stand nach allen Richtungen weg, die Augen musterten sie voll Scheu. Juefaan verharrte eine Weile in seiner Position, als überlegte er, ob er hinter seinem Versteck hervorkommen und sie begrüßen sollte. Schließlich nickte er Bahafaa zu und gab Fersengeld. Hinein in den Wald, bis Juneedas Sohn zwischen Felsbrocken und Schneewechten verschwand.
    Bahafaa lächelte erleichtert. Sie mochte den Kleinen. Er war ein Kind, und Kinder gaben sich weit aufgeschlossener als die Erwachsenen. Wahrscheinlich fühlten sie es noch nicht.
    Bahafaa nahm ihren Weg wieder auf. Nach wenigen Minuten hatte sie die Felsen erreicht. Eine wundervolle Sicht über die See tat sich vor ihr auf.
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