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263 - Von Menschen und Echsen

263 - Von Menschen und Echsen

Titel: 263 - Von Menschen und Echsen
Autoren: Michael M. Thurner
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zu benehmen. In der Hoffnung, einmal einer zu werden.
    Es war keine schöne Erzählung. Sie handelte von Mord und Krieg und unmenschlichen Verhaltensweisen. Vom Hass auf einen einzelnen Mann. Von der Erziehung eines aus dem Mutterleib geraubten Kindes, das keines war und dessen Tod Veränderungen in ihm ausgelöst hatte.
    Bahafaa verstand beileibe nicht alles. Es war auch nicht so wichtig. Bedeutsam erschien ihr allein der Vertrauensbeweis, den ihr Groom - oder Grao'sil'aana, wie er mit richtigem Namen hieß - entgegenbrachte. Er öffnete sich ihr so weit, wie man es nur konnte, und erwartete ihr Urteil.
    Sie rückte näher an ihn heran und drückte ihm einen Kuss auf die Stirn. Dies war nicht Hermon, den sie fühlte. Groom lebte in dieser Hülle. Der unbeholfene, manchmal so gefühllose Groom, der kaum einmal die richtigen Worte fand.
    Doch diesmal hatte er es geschafft.
    »Ich vertraue dir«, sagte sie und lehnte sich gegen ihn. Sie würde sich daran gewöhnen müssen, in Hermons Antlitz zu sehen. »Aber wie soll es weitergehen?«
    »Groom ist offiziell gestorben. Mein fliegender Freund hat den Echsenkörper eines Daa'muren vor den Augen der Kriegerinnen fortgetragen und ins Meer stürzen lassen.«
    »Der richtige Hermon ist also tot, und du nimmst seine Rolle ein.«
    »Ganz richtig. Allerdings werde ich auf die Macht der Lischetten verzichten. Irgendwann werden die Kriegerinnen aus ihrer Trance erwachen und mich als ganz normalen Menschen sehen.«
    »Sie werden dich für einen Gesandten Orguudoos halten und verjagen, sobald sie sich ihrer Schande bewusst sind.«
    »Nur du weißt, was wirklich geschah. Alle anderen Betroffenen werden sich nicht erinnern können.«
    Bahafaa schwieg lange und dachte nach. »Du hattest versprochen, Hermon am Leben zu lassen - und dennoch hast du ihn getötet?«
    »Du hast nicht richtig zugehört, Bahafaa. Ich versprach ihm, seine Lischetten zu verschonen. Und das werde ich auch tun. Ohne Hermons Beeinflussung werden sie sich in alle Winde verstreuen und keine Gefahr mehr darstellen. Wer weiß, ob sie überhaupt den Winter überstehen.«
    Noch immer schwirrten Bahafaas Gedanken wild durcheinander. Das alles war zu viel für einen einzelnen Menschen. »Wie wird es nun weitergehen?«
    »Wie es immer weitergeht.« Groom legte unbeholfen einen Arm um ihre Schultern. »Wir leben und hoffen, das Richtige zu tun. Wir kämpfen, wir siegen oder verlieren, wir sterben. Wir hoffen, dass alles gut geht. Es ist eine Reise ins Ungewisse, dieses Leben.«
    »Es ist ungewisser denn je.« Bahafaa fühlte tiefe, kreatürliche Angst. Sie ließ sich mit einem Wesen ein, das kein Mensch war und auch nie sein würde. Jederzeit konnte sein eigentliches Ich durchschlagen und Groom wieder zu dem machen, was er bis vor wenigen Tagen noch gewesen war.
    Doch andererseits… was hatte sie zu verlieren? Ihr Leben war bislang eine Aneinanderreihung von Ablehnungen und Verachtung gewesen. Ihre Kraft war erschöpft. Sie benötigte jemanden, der sie stützte und der über ihre Mängel hinwegsah.
    »Ich habe übrigens noch eine gute Nachricht«, sagte Grao.
    »Und zwar?«
    »Vor seinem Tod sagte Hermon etwas über dich, das mir im ersten Moment unsinnig erschien: Dein Lauschsinn hätte sich durch eine Laune der Natur ins Gegenteil verkehrt.«
    »Und… was bedeutet das?«
    »Ich vermute«, erwiderte Groom, »dass du keine Gedanken empfängst wie die anderen Frauen, sondern sie aussendest ! Weil du in deiner Kindheit oft verspottet wurdest, hast du eine negative Grundhaltung entwickelt - und dieses Gefühl auf jeden abgestrahlt, der mit dir zu tun hatte.«
    »Du meinst…« Bahafaa stockte der Atem.
    Groom nickte. »Du wirst lernen müssen, das Leben zu lieben. Wie auch ich. Wenn du deine Unbefangenheit zurückgewinnst und deine Gedanken frei von Angst und Zorn und Unmut sind, wirst du bald der beliebteste Mensch der Dreizehn Inseln sein.«
    »Meinst du wirklich?«
    »Die Hoffnung besteht.«
    Bahafaa legte sich wieder nieder. Sie fühlte sich nach wie vor schwach und ausgelaugt, doch das erste Mal seit langer Zeit sah sie so etwas wie einen Silberstreif am Horizont. »Ich… ich fürchte mich vor der Zukunft«, flüsterte sie.
    »Tun die Menschen denn das nicht immer?« Hermon, der eigentlich der Daa'mure Grao'sil'aana war, legte sich zu ihr und küsste sie.
    14.
    Thgáan schwebte frei. Frei von allen Aufgaben. Grao'sil'aana hatte ihn von seinen Verpflichtungen entbunden. Er wurde nicht mehr benötigt.
    Er überlegte, ob
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