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263 - Von Menschen und Echsen

263 - Von Menschen und Echsen

Titel: 263 - Von Menschen und Echsen
Autoren: Michael M. Thurner
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Hass und dem Wunsch nach Vergeltung aufrecht, bis auch diese Worte zu sequentiell aneinander gereihten Lauten oder Buchstaben ohne Sinn verkamen.
    Sein Körper wurde zum Teil der Masse, des Berges. Es war ruhig hier unten. Totenstill. Sofern es dieses »unten« noch gab, denn wenn es existierte, dann musste es auch ein »oben« geben. Oben aber war… war…
    Seine Klauen bewegten sich… oder? Täuschte er sich? Besaß er denn einen Leib, oder war er lediglich dampfende, von Gedanken durchzogene Masse, die allmählich im Erdreich versickerte?
    Grao'sil'aana. War. Sein. Name. Sein Rang. Seine Bezeichnung. Seine Identität. Sein… sein…
    Er vergaß, was er denken wollte, und er vergaß, was Vergessen war. Sein Geist glitt ins absolute Nichts.
     
    Getrommel und Getuschel. Gesang. Beschwörungen. Gelächter. Flüche, Schreie der Lust und des Schmerzes, Hasstiraden und Worte, die so geheim und schrecklich und durchdringend waren, dass man sie am besten augenblicklich wieder vergaß.
    Grao'sil'aana trieb durch Raum und Zeit. Bilder, teilweise von Nebeldämpfen überdeckt, zogen an ihm vorbei und weckten so etwas wie… Neugierde.
    »Hum-hum«, brummte jemand. »Ein Besucher aus der Anderswelt. Aus der falschen Welt. Stört unsere Ruhe.«
    Grao'sil'aana sagte nichts. Wie auch? Er besaß keine Stimme. Nicht mehr.
    Eine Hand zerteilte den Dunst und ließ ihn auf mehrere dünne Bänder blicken, die sich ihm rasend schnell näherten. Sie fuhren in seinen Körper - Grao'sil'aana wunderte sich einen Augenblick lang, dass er so etwas wie einen Leib besaß, doch er vergaß diesen Gedanken rasch wieder - und ließen ihn erschreckt aufstöhnen. »Man« hatte ihm Stimmbänder geschenkt. Tiersehnen, in dünne Streifen geschnitten, die es ihm nun erlaubten, sich zu artikulieren.
    »Wo bin ich?«, fragte er, um gleich darauf, weil das Reden so gut funktionierte, nachzuhaken: » Was bin ich?«
    »Ein Gast. Ein ungebetener. Einer, der unseren Meditationszyklus stört.«
    »Halt den Mund, Azele«, meldete sich eine andere Stimme zu Wort. Ein ochsenförmiger Kopf mit drei Wurmanhängseln statt einer Schnauze schob sich in Grao'sil'aanas Wahrnehmung. »Lass den Kleinen reden. Vielleicht weiß er, was er von uns will.«
    »Du bist zu gutmütig, Kaka-Gye. Wir sollten seinen Geist in Banaa-Blätter packen, den Gedankensud aufköcheln und das Gemisch während der Meditationsruhe auslutschen. Dann wüssten wir ohnedies, was er von uns wissen wollte.« Ein zweites Gesicht überdeckte das erste. Es war das eines schwarzhäutigen Geschöpfs mit angespitzten Zähnen und grellweißen Augen.
    »Das steht uns immer noch offen. Fändest du es denn nicht amüsanter, uns mit dem Kind zu unterhalten? Vielleicht kennt es Wörter, die uns unbekannt sind? Wie etwa eines für: Es juckt in meinem Bauchnabel, aber ich kann mich nicht kratzen, weil ich keinen Körper mehr besitze ?«
    »Über dieses Thema haben wir uns längst geeinigt!« Das Wesen namens Azele zeigte so etwas wie Empörung. »Wir fanden, dass das Wort: Es-juckt-in-meinem-Bauchnabel-aber-ich-kann-mich-nicht-kratzen-weil-ich-keinen-Körper-mehr-besitze passend wäre.«
    »Du bist ein Banause! Ich sollte dir ein Tutu an die Denkdrüse fluchen, oder an deinen Gelächterfetisch.«
    »Dazu fehlt dir die Kraft, du eingeschrumpeltes Totem-Relikt. Du bist nichts weiter als ein Stück Holz, seit Jahrzehnten in einem Schrein begraben, an den sich kaum noch jemand erinnert. Kein Wunder: Du warst schon zu Lebzeiten in der Falschwelt ein Nörgler, den die Menschen und all die anderen Geschöpfe immer nur verachteten.«
    »Und du? Glaubst du etwa, man liebte oder fürchtete dich? Man versuchte dich mit Opfergaben stinkender Piigs zu besänftigen. Oder aber alte, verschrumpelte Weiber pinkelten auf getrockneten Tierkot, um deine Aufmerksamkeit zu gewinnen.«
    Azele und Kaka-Gye setzten ihren Streit fort. So, als hätten sie Grao'sil'aanas Gegenwart ausgeblendet. Er nahm die Gelegenheit zum Anlass, um sich »umzusehen« und sich zu orientieren.
    Da waren auch noch andere. Mächtige und weniger mächtige Wesen. Geistessubstanzen, die in dieser seltsam grauen, nebeldurchzogenen Zwischenwelt lebten und vor sich hin dachten. Manche von ihnen meinten, in einer früheren Existenz ein Stein oder ein angekohltes Stück Holz gewesen zu sein. Ein Wesen hielt sich für einen Lufthauch, ein weiteres nannte sich »Kindsvater von Borgya«. Drei Frauen mit immensen Brüsten webten ein Netz aus Kokosnussfasern, in dem
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