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254 - Das Nest

254 - Das Nest

Titel: 254 - Das Nest
Autoren: Michelle Stern
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rechte Hand war zertrümmert und das rechte Auge schwer geschädigt worden. Es hatte seine Sehkraft eingebüßt… nicht aber die Zukunftssicht , die allen Lords, wie sich die hiesigen Barbarenstämme nannten, zueigen war: Bei Gefahr sahen sie zwei Lidschläge weit voraus, was geschehen würde. Das befähigte sie, im Kampf zu reagieren, noch bevor der Gegner den Angriff führte.
    Der seherische Blick von Traysis rechtem Auge ging nach der Verletzung nun aber ganze zwei Sekunden voraus - und das nicht nur bei Gefahr, sondern unentwegt! Weil der Sehnerv durchtrennt war, nahm sie das Bild mit dem unverletzten linken Auge wahr - zusätzlich zu dessen ganz normaler Sicht. So überlagerten sich die Bilder ständig, was kaum zu ertragen war.
    Darunter litt auch ihre geistige Macht, die sie über Tiere erlangen konnte. Schon früh hatte sie erkannt, dass sie und ihre Zwillingsschwester Gwaysi die Fähigkeit besaßen, in andere Köpfe hinein zu lauschen und andere Lebewesen zu beeinflussen. Anders hätte sie unter den Taratzen keinen Tag überleben können. Dass sie jetzt hier schwer verletzt am Ufer der Themse lag, war die Folge ihrer zunehmenden geistigen Verwirrung. Sie hatte Hrrney nicht länger kontrollieren können, und schließlich hatte er sich gegen sie gewandt.
    Schluchzend zog die Hexe, wie die Lords sie wegen dieser Gabe nannten - und weshalb sie aus dem Dorf verbannt worden war - ihren Körper zusammen, in Erwartung des nächsten Schnabelhiebs, der ihren Hals oder den weichen Bauch treffen und ihr Leben beenden würde.
    Doch der Tod kam nicht.
    Worauf wartet dieses Ungeheuer?
    Der Eluu war noch immer da. Traysi konnte ihn hören. Sie fühlte den Wind, den seine flatternden Flügel verursachten. Sehen konnte sie nichts mehr. Dieser Sinn war endgültig zerstört.
    Warum griff er sie nicht an? Hatte sie geistige Macht über das Tier? War ihre alte Gabe mit dem Verlust ihres Augenlichts zurückgekehrt? Wenn sie doch nur klarer denken könnte! Der Schmerz machte sie rasend.
    Sie griff geistig nach dem Eluu, versuchte den Riesenvogel zu finden - und tatsächlich war er mit ihr verbunden! Ein schwaches, verzerrtes Bild baute sich vor ihrem inneren Auge auf. Es war entsetzlich hell und sonderbar verschoben. Ständig wischte etwas hindurch, das ihre Umgebung zittern ließ. Und dann… sah sie sich selbst, blutbesudelt, auf beiden Augen blind, am Boden zuckend!
    Traysi schrie auf. Wie war das möglich? War sie doch nicht blind? Aber warum sah sie sich selbst?
    Nur allmählich begriff die verzweifelte Frau, dass sie durch die Augen des unterworfenen Riesenvogels sah. Ihr Geist hatte sich mit dem der Rieseneule verbunden - und mit deren Blick. Gleichzeitig spürte sie, dass der Eluu auf ihre Befehle wartete.
    Bring mich von hier weg , befahl sie ihm. Bring mich in Sicherheit und pass auf mich auf, als wäre ich deine Brut.
    Die Klauen des Tieres schlossen sich um ihren Körper und rissen sie in die Luft. Gleichzeitig sah Traysi aus der bizarren Eluusicht, wie das Land unter ihr kleiner wurde. Die Grünanlage entfernte sich rasch, das turmhohe Gebäude daneben wurde zu einem kleinen Strich unter dem grauen Wolkendach. Traysi hätte gelacht, wenn nicht der Schmerz so entsetzlich in ihr gewütet hätte.
    Es ist eine Fügung! Eine Fügung der Götter! Traysis Gedanken verwirrten sich. Sie tauchte ein in rot glühende Fieberträume. Nur einmal noch kämpfte ihr Geist sich empor, erkannte sie, was sie verloren und gewonnen hatte: Durch den Verlust des Auges endete die Doppelsicht, die ihr die Zukunft gezeigt hatte, und ihre alte Gabe war mit neuer Kraft zurückgekehrt. Sie mochte ein blinder Krüppel sein, aber sie war mächtig!
    Hrrney… das alles ist deine Schuld! Wenn ich überlebe, wirst du bluten!
    Dann ließ sie erschöpft die Ohnmacht zu, die ihre Gedanken auslöschte. Ihr letzter Gedanke galt dem König der Taratzen, der sie so schmählich getäuscht und betrogen hatte.

Südküste Englands, Oktober 2525
    Sie begruben Victoria Windsor, die ehemalige Queen Britanas, am Ufer des Kanals. Matt hatte mit einer der Ruderbänke des maroden Bootes ein Loch ausgehoben, Aruula hatte Steine gesammelt, um die Grabstätte vor Tieren zu schützen.
    Als ob irgendein Tier die Queen in diesem Zustand fressen könnte. Matt schauderte. Die einstige Königin der Community London war zu Stein erstarrt. Es war kein schwerer Stein, doch er war fest und ließ sich nur mit viel Mühe brechen. Der Commander berührte in seiner Hosentasche den
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