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25 Stunden

25 Stunden

Titel: 25 Stunden
Autoren: David Benioff
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Fingerspitzen. Er pult das getrocknete Blut ab. Sein Vater sieht, was er tut, und gibt ihm ein rotes Taschentuch aus seiner Manteltasche.
    »Ist sauber«, sagt Mr. Brogan und wirft einen Blick auf das Gesicht seines Sohnes. »Himmel, was haben sie dir angetan. Ich sag dir was, Monty, das wird schon wieder. Die falschen Zähne, die sie einem heute einsetzen, kannst du kaum von den richtigen unterscheiden. Wie geht's deiner Nase?«
    »Gebrochen.«
    »Eine gebrochene Nase, die gibt einem Charakter. Ich weiß, jetzt sieht sie schlimm aus, aber wenn die ganzen Schwellungen erst mal weg sind, wird es ganz gut ausschauen. Keine Sorge, wenn du wieder nach Hause kommst, wirst du immer noch der bestaussehende Bursche in ganz Bensonhurst sein. Aber die haben dich ganz schön in die Mangel genommen. Zu wie vielt waren sie?«
    »Keine Ahnung, Dad. Ein ganzer Haufen.«
    Sie fahren die First Avenue hinauf. Die Schneeketten singen gleichmäßig: dih-lih-dih-dih, dih-dih-lih-dih-dih. Jedes Mal, wenn Monty sich das Taschentuch gegen die Augen drückt, zieht ein sengender Schmerz seinen Nasenrücken entlang. Aber er kann jetzt ein bisschen besser sehen. Er schaut zu, wie die Stadt am Fenster vorbeizieht.
    Die weiße Wolkendecke reißt schon auf und gibt den Blick auf den blauen Himmel frei. Die Straßenlaternen leuchten noch, glühen schwach in der Morgenluft. An einer Ecke lehnt ein schnauzbärtiger Mann, hält eine Zigarette zwischen den behandschuhten Fingern, den Stiel seiner Schneeschaufel in der Armbeuge. Vor einer geschlossenen Fleischerei steht eine Frau in einem Herrenmantel, der ihr bis an die Zehen der Überschuhe reicht, und streut Salz. Zwei kleine Jungen ziehen ihre Schlitten hinter sich her, sie schnaufen und keuchen übertrieben, Atemwolken über den knallroten Gesichtem. Ein Mann und eine Frau mit Anoraks im Partnerlook befestigen ihre Skier auf dem Gepäckträger ihres Autos. Ein Zeitungsverkäufer sitzt auf einem blauen Getränkekasten und schlürft Kaffee aus einem Pappbecher, während sein lockenköpfiger Junior den Kiosk von Eiszapfen befreit. Ein Polizist sieht, die Hände in die Seiten gestemmt, unter die Motorhaube seines Streifenwagens, während sein Kollege sich gegen die Fahrertür lehnt und in sein Funkgerät lacht.
    An einer roten Ampel an der 96,h Street sieht Monty zu dem Stadtbus hinauf, der geräuschvoll neben ihnen im Leerlauf hält. Auf der hinteren Bank sitzt ein kleiner Junge mit einer weißen Strickmütze und winkt Monty zu. Monty winkt zurück. Der Junge klopft ans Fenster, und Monty liest die handgeschriebenen Buchstaben auf der beschlagenen Scheibe: moT. Monty braucht einen Moment, um es zu begreifen. Dann lächelt er, so gut er kann, und schreibt auf sein eigenes Fenster: Monty. Bevor er den T-Strich ziehen kann, fährt der Bus an, und Monty sieht ihm hinterher, wie er in einer Abgaswolke verschwindet.
    »Du brauchst es nur zu sagen«, sagt Mr. Brogan, »und ich bieg links ab.«
    »Links ab wohin?«
    »Wir können die George Washington Bridge nehmen. Wohin du willst.« Mr. Brogan fährt vorsichtig, die Hände bei zehn Uhr und zwei Uhr auf dem Lenkrad, hält er mit zusammengekniffenen Augen in dem Matsch vor ihnen nach Schlaglöchern Ausschau. »Du lässt dich irgendwo wieder zusammenflicken, und dann suchen wir dir irgendeine schöne kleine Stadt...«
    »Dad.«
    »Ich sag doch, wenn du willst. Wenn du willst, dann mach ich es. Wir fahren einfach immer weiter. Halten in Chicago und sehen uns ein Spiel der Cubs an. Das Wrigley Field wollte ich mir schon immer mal anschauen. Vielleicht fahren wir auch zum Grand Canyon und machen ein paar Fotos. Wir finden uns irgendwo eine nette kleine Stadt, suchen uns eine Kneipe, und ich kauf uns was zu trinken. Ich hab seit neunzehn Jahren keinen Schluck mehr getrunken, aber mit dir trink ich was. Und dann geh ich. Aber du darfst mir nie schreiben, hörst du, oder mich besuchen kommen. Ich glaube an das Himmelreich und dass wir uns wieder sehen werden, du und ich und deine Mutter. Aber nicht zu Lebzeiten.«
    Monty fährt mit der Zunge über die scharfen Reste der ausgeschlagenen Zähne. Seine linke Gesichtshälfte fühlt sich an, als hätte man ihn damit auf eine glühendrote Herdplatte gedrückt. Er schaut seinen Vater an, sieht die Entschlossenheit in seinem Gesicht, den festen Blick, die Wangenmuskeln so angespannt, dass es aussieht, als hätte er einen Pfriem Kautabak im Mund.
    »Sie werden dir die Kneipe wegnehmen.«
    »Ach Gott.« Mr. Brogan schüttelt
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