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25 Stunden

25 Stunden

Titel: 25 Stunden
Autoren: David Benioff
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Jahren zum Geburtstag geschenkt hat. Er packt die Fotografie ein, auf der er als Sechsjähriger mit seiner Mutter und seinem Vater vor dem funkelnden Weihnachtsbaum steht.
    Schließlich geht er ins Wohnzimmer zurück und stellt den Koffer neben die Wohnungstür. »Ich werd mich hier verabschieden«, sagt er. Er tritt zu Naturelle und umarmt sie. Er hält sie lange fest. Als er sie wieder loslässt, lächelt sie zu ihm hinauf, mit zusammengekniffenen Lippen. Die Haut um ihre Augen herum ist dunkel und geschwollen vor Müdigkeit. Sie blinzelt und sieht weg, aber Monty sieht sie noch einen Moment länger an. Sie kommt ihm gerade extrem jung vor, ohne ihr Make-up, die langen Haare zu einem Pferdeschwanz zurückgebunden wie ein Schulmädchen.
    Er geht zu seinem Vater, aber Mr. Brogan schüttelt den Kopf.
    »Wie willst du zum Busbahnhof kommen?«
    »Mit der U-Bahn.«
    »Das schaffst du nicht. Die meisten Züge sind ausgefallen. Ich fahr dich nach Otisville. Herrgott noch mal, was haben sie dir bloß angetan.«
    »Komm, Dad, lass gut sein. Ich nehm ein Taxi.«
    »Du wirst keins kriegen«, sagt Naturelle. »Lass dich lieber von ihm ins Krankenhaus bringen.«
    »Traust du mir das etwa nicht zu bei dem Wetter?«, sagt Mr. Brogan und versucht zu lächeln. »Ich hab Schneeketten und alles.«
    »Ich will das so nicht. Du machst es nur schwerer. Lass mich gehen, Dad. Ist leichter so.«
    »Was soll daran leicht sein, Monty? Leicht? Du meine Güte, du begreifst es nicht, oder? Du hast keine Ahnung.« Er berührt Montys Wangen sachte mit den Fingerspitzen. »Lass mich dich fahren. Ich muss sowieso sehen, wo es ist, wegen der Besuche. Ja, Kumpel? Hilf mir.«
    Monty blinzelt und nickt dann. »Aber nicht ins Krankenhaus«, sagt er.
    Mr. Brogan küsst Naturelle auf die Wange, und sie umarmt den älteren Herrn, schlingt die Arme um seinen Winterparka und drückt ihn ganz fest. Als sie ihn freigibt, geht er zur Wohnungstür und öffnet sie, nimmt den Koffer und verlässt das Apartment, ohne die Tür zu schließen. Monty steht still da, sieht Naturelle an. Sie lauschen den leiser werdenden Schritten seines Vaters im Treppenhaus.
    »Wart noch eine Sekunde«, sagt sie. Sie geht in die Küche, und er wartet, schaukelt hin und her auf seinen Stiefelabsätzen, die Augen geschlossen. Der Hahn in der Küche tropft leicht, jeder Tropfen ein fernes Händeklatschen. Als Naturelle zurückkommt, gibt sie ihm einen mit Eiswürfeln gefüllten Plastikbeutel, damit er ihn sich ans Gesicht halten kann. Für einen Moment stehen sie still, ihre Hand auf der seinen, den Eisbeutel an seinen Kiefer gedrückt.
    Sie soll ihn halten jetzt, soll flüstern, dass sie ein Geheimversteck kennt, in dem sie niemand finden wird. Soll ihm versprechen, dass sie ihm hinterherzieht, dass sie sich eine Stelle suchen wird in Otisville und ihn jede Woche besuchen kommt. Soll sagen, dass die sieben Jahre vergehen werden wie irgendein Albtraum, dass er aufwachen und sich in ihren Armen wieder finden wird, dass hinter der nächsten Ecke noch ein ganzes Leben auf sie wartet.
    Naturelle sagt nichts, und Monty sagt nichts. Schließlich nickt er und wendet sich ab, schließt leise die Tür hinter sich. Er knotet den Plastikbeutel auf und lässt das Eis das Treppenhaus hinunterfallen, sieht zu, wie die Würfel glitzern und verschwinden, bevor sie drei Stockwerke tiefer auf dem Linoleum zerbersten. Er knüllt den Beutel zusammen und stopft ihn sich in die Tasche.
    Unten steht Mr. Brogans Auto mit eingeschalteter Warnblinkanlage in der zweiteh Reihe. Das Dach des alten Honda ist von Schnee gekrönt, aber Windschutzscheibe und Heckscheibe sind frei. Mr. Brogan öffnet die Beifahrertür, und Monty lässt sich langsam in den Sitz sinken, dann beugt er sich hinüber und zieht den Knopf der Fahrertür hoch.
    Sie warten eine Minute, bis der Motor rund läuft und warme Luft durch die Lüftungsdüsen strömt. »FDR ist zu«, sagt Mr. Brogan. »Wir fahren am besten die First Avenue hoch, dann über die Triborough und die 87 hoch auf die Route 17 bis zur 211, und die bringt uns direkt nach Otisville. Kein Problem, vom Schnee mal abgesehen.« Monty antwortet nicht, also redet Mr. Brogan weiter. »Ich hab auf der BQE einen schlimmen Unfall gesehen. Ein Abschleppwagen hatte sich überschlagen. Jetzt werden sie den Abschleppwagen wohl abschleppen müssen, sobald sie ihn wieder auf die Füße gestellt haben. Auf die Räder, mein ich.«
    Monty reibt sich die Augenwinkel und spürt Krusten unter den
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