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244 - Der dunkle Traum

244 - Der dunkle Traum

Titel: 244 - Der dunkle Traum
Autoren: Volker Ferkau
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seine Gefangenen von der Wolkenstadt aus immer in Sichtweite haben. Victorius hatte darauf verzichtet, eine der Rozieren zu nehmen; er betrachtete den allmorgendlichen Kontrollgang als eine Art Frühsport. Die Valvona stakste auf ihren Storchenbeinen neben den drei Menschen her. Rulfan hatte die Rechte auf den Knauf seines Säbels gelegt, den er beim Verlassen der Stadt zurückerhalten hatte. Es war ein gutes Gefühl, die Waffe unter den Fingern zu spüren.
    Nach zehn Minuten langten sie vor dem imposanten Gefängnis an, dessen Metallplatten einen kantigen Kreis bildeten, schräg in die Höhe strebten und in ein Flachdach übergingen. Rings um den Bau war keine Spur von Leben zu entdecken; kein noch so kleines Gestrüpp wuchs aus dem Boden, nicht einmal Käfer krabbelten hier herum.
    »Im Kerker muss es tagsüber unerträglich heiß sein«, sagte Rulfan.
    Victorius nickte. »Das lässt sich nicht vermeiden. Wenigstens liegt aber ab dem späten Vormittag der Schatten der Wolkenstadt über dem Gelände.«
    Rund um den Stahlklotz war der Boden von einer Betonschicht bedeckt, so sauber, als wäre sie gerade erst gefegt worden. Dass dies tatsächlich der Fall war, machte Victorius mit seinen nächsten Worten klar: »Wir achten peinlich genau darauf, dass nicht einmal Blütenpollen ins Innere des Kerkers gelangen, die für Daa’tan ein gefundenes Fressen wären – im wahrsten Sinne des Wortes! Darum wird der Bereich in stündlichen Abständen gesäubert.«
    Rulfan zählte vier Wachen, die um das Gebäude patrouillierten. Sie drehten auf dem Betonstreifen stoisch ihre Runden und blickten noch nicht einmal zu ihnen herüber.
    »Ist das nicht ein viel zu großer Aufwand für nur zwei Gefangene?«, fragte Aldous.
    »Du hast die beiden nicht in Aktion erlebt«, erwiderte Victorius. »Reiche ihnen den kleinen Finger, und sie reißen dir den Arm aus dem Leib und töten dich ohne Gnade!«
    Ich hätte ihn getötet!, erinnerte sich Rulfan an die Stimme, die ihn in seinen Träumen bedrängt hatte. Ich hätte ihn getötet!
    Wer war ICH? Irgendwie gewann diese Stimme an Substanz. Im Moment wäre Rulfan jede Wette eingegangen, dass er in seinen Träumen die Stimme von Aldous gehört hatte.
    Ich mache mir Sorgen um dich, mon ami, hatte Victorius gesagt. Du bist nicht mehr derselbe Rulfan, den ich kannte.
    » Gehen wir hinein«, drang Victorius’ Stimme in seine Gedanken, aber Rulfan hörte sie kaum. Alles war so verworren, unlogisch! Er war eine knappe Woche durch die Wildnis gestapft, um einem imaginären Ziel zu folgen. Er hatte Lay und Chira zurückgelassen, und er hatte…
    Der Rulfan, den ich kannte, würde niemals jemanden leichtfertig seinen Meister nennen!
    … und er hatte sich einem Menschen anvertraut, den er genau genommen überhaupt nicht kannte! Ein Mann, der regelmäßig die Götter anrief, um nach Visionen zu fragen. In den letzten Tagen hatte Aldous das nicht einmal gemacht. Warum nicht? Und warum hatte der Alte ihm die Fähigkeiten der Valvona verschwiegen? Rulfan erinnerte sich außerdem daran, dass Victorius meinte, er sei einem Bruder von Aldous schon einmal begegnet. Wie passte das zusammen?
    Rulfan schwirrte der Kopf. Fast schon absurd fand er Aldous’ Ruhe und Gelassenheit. Der alte Schamane machte den Eindruck eines Mannes, der sein Ziel erreicht hatte.
    Ich hätte ihn getötet! Außerdem war da noch der überhastete Aufbruch aus Taraganda. Warum hatte Lay so verständnisvoll reagiert? Sie hatte keine Fragen gestellt, sondern im Gegenteil Rulfan bei seinem Plan unterstützt. Das sah ihr überhaupt nicht ähnlich!
    Lay, Chira, Zarr, Winda, Aldous, Daa’tan, Grao…
    Ich hätte ihn getötet! Rulfan drehte sich fast der Magen um. Er riss seine Augen auf und hatte ein Gefühl, als erwache er aus einem Traum… als eine kleine, aber kräftige Hand ihn am Oberarm packte und herumdrehte. »Was ist los mit dir?«, schnappte Aldous und riss sich die Sonnenbrille vom Gesicht.
    Rulfan straffte sich. Er schwieg. Trotz der Hitze fror er.
    »Wir müssen miteinander reden«, sagte Aldous eindringlich. Victorius räusperte sich. »Ich möchte Euch um etwas Geduld bitten, mein Prinz! Ein paar Minuten nur…«, sagte Aldous. »Rulfan und ich haben noch etwas zu besprechen!«
    Der Alte zog den Albino außer Hörweite des schwarzen Prinzen. Seine dunkelgrauen Augen waren Tümpel, in denen wilde Kreaturen hausten. »Es ist völlig normal, dass du dich fragst, ob du richtig handelst, Rulfan. Du stehst unter hohem Druck! Im Moment
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