Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
2.01 Donnerschlag

2.01 Donnerschlag

Titel: 2.01 Donnerschlag
Autoren: Joachim Masannek
Vom Netzwerk:
fast schwarzen Augen holte den Wilden Kerl sofort wieder in die Wirklichkeit zurück. Er wischte sich die Gewitterwolke aus dem Gesicht, sah noch einmal zum schnarchenden Willi und wandte sich dann an seinen Bruder.
    „Genau“, sagte Marlon. „Ganz offensichtlich scheinst du Willi zu langweilen. Dann zeig ihm doch mal, was in einem Wilden Kerl steckt!“ Er schenkte Leon ein listiges Grinsen und schob ihm den Ball vom Anstoßpunkt zu.
    Sofort war ich wach. Die zweite Halbzeit hatte begonnen und sie war wie ein Lieblingsfilm. Ich meine einen Film, den man sich nicht oft genug anschauen kann, auch wenn man jede Szene bereits in- und auswendig kennt. Leon passte blitzschnell zu Maxi zurück. Der spielte direkt und schickte Raban auf links tief in die Hälfte des Turnerkreises hinein. Ja, und verflixt, Raban war einfach mein Held. Der Kerl, der seine Coca-Cola-Glas-Brille inzwischen wie einen Orden trug, pflückte den Ball im Lauf aus der Luft, köpfte ihn über den ihn attackierenden Verteidiger, rutschte durch dessen Beine hindurch und schlug das Leder im Rücken des verdatterten Turnerkreisspielers mit einem Scherenschlag in den Strafraum hinein. Dort sauste Juli „Huckleberry“ Fort Knox, die Viererkette in einer Person, der in diesem Spiel so gut wie arbeitslos war, wie ein Torpedo über den Boden. Er presste die karierte Schirmmütze mit einer Hand auf den Kopf, hob die andere schon zum Victory-Zeichen und rammte die Kugel mit seinem Tieffliegerflugkopfball unhaltbar ins Netz. Das bauschte sich auf, so wie sich nur ein Tornetz aufbauschen kann: schmetterlingsflügel-traumwolken-weich.
    Und dieses einzigartige Gefühl, das man dabei im Bauch empfindet – im Bauch, an den Schläfen, auf der Stirn und den Augen –, spürte ich an diesem Tag noch ein Dutzend Mal.

    Dreiundzwanzig zu null führten die Kerle, als der mehldampfgenudelte Schwabbelbauchsohn des Turnerkreistrainers vor lauter Frust sein Sichelbein schwang und Leon aus vollem Lauf fällte. Der Mittelstürmer schrie nur einmal kurz auf. Dann wälzte er sich stumm auf dem Boden. Er versuchte vergeblich aufzustehen, und ich hielt die Luft an.
    „Komm schon! Steh auf!“, flüsterte ich meinen sehnlichsten Wunsch: „Du bist Leon, der Slalomdribbler! Du bist der Boss!“
    Doch Leon kroch stöhnend zum Spielfeldrand.
    „Willi!“, rief ich. „Wir müssen wechseln. Wer soll ins Spiel?“
    Doch Willi verschluckte sich nur einmal beim Schnarchen. Dann sägte er weiter und die Ersatzbank war leer. Ja, verflixt, ihr habt richtig gehört. Die Bank war kaputt. Es gab sie nicht mehr. Sie lag in der Mitte auseinandergebrochen am Spielfeldrand und ich sah es in diesem Moment noch einmal vor meinem geistigen Auge, wie es damals passiert war:
    Jojo sprang hoch. ‚Der mit der Sonne tanzt‘ ballte die Fäuste und reckte die Arme, als Leon vor knapp einem Jahr das dreizehn zu null gegen die Sollner Spielvereinigung schoss. Das war unser bis dahin höchster Sieg. Und deshalb sprang Jojo so hoch wie noch nie. Die Sonne, die schon tief hinter dem Bretterzaun stand, traf sein Gesicht. Sie verwandelte sein Lachen in purpurnes Gold, und so lachte er immer noch, als er beim Landen durch die Bank brach und auf seinen Hintern baunzte. Aber Jojo erschrak nicht. Er lachte vor Glück und wir lachten alle mit ihm zusammen.
    Doch jetzt war er weg. Jojo gehörte nicht mehr zu den Kerlen und deshalb rannte ich zur Bank. Ich sprang auf die Seite, die noch aus dem Boden ragte, und schwenkte die Arme über dem Kopf.
    „Hey, ich kann doch spielen. Ich springe ein. Ich spiele für Leon! Marlon! Vanessa!“
    Buddha-gemoppelter-Wonnebauch! Das war mein Tag. Mein Traum würde wahr werden. Ich, der ewige Zaungast und Zuschauer, würde endlich ein Wilder Kerl werden dürfen, und ich leuchtete deshalb wie eine chinesische Glückslaterne. Ja, verflixt, aber Marlon und Vanessa schauten mich an, als würden sie mich zum ersten Mal sehen. Sie waren doch so viel älter als ich: gigantische dreizehn und ich war erst acht. Lausig-mickrige acht Jahre alt.
    „Und wo ist dein Spielerpass?“, rief der Trainer des Gegners. „Ist so was wie du überhaupt registriert? Bist du schon geboren?“
    Die Turnerkreisspieler lachten scheppernd und fies. Sie schütteten ihren gesamten Frust über mich. Den Frust und die Häme der fast zwei Dutzend Tore, die sie an diesem Tag hatten einstecken müssen.
    Und ich spürte, wie die Bankhälfte unter mir brach. Ich dotzte mit dem Po auf den Boden und hörte das
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher