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198 - Sohn und Dämon

198 - Sohn und Dämon

Titel: 198 - Sohn und Dämon
Autoren: Jo Zybell
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Victorius?«, wiederholte Rulfan.
    Der Kessel brodelte, der Kolben stampfte, der Propeller surrte. Victorius reagierte nicht.
    Diese Anwandlungen hatten die beiden Freunde in den letzten Tagen des Öfteren an ihm beobachtet. Seit er vom Wandler vereinnahmt worden war und ihm als Sprachrohr gedient hatte. [1] Sie konnten nur hoffen, dass sein Verstand keinen bleibenden Schaden davongetragen hatte. Für gewöhnlich erholte er sich nach ein, zwei Minuten wieder und konnte sich nicht an den Anfall erinnern.
    Plötzlich flatterte die Zwergfledermaus Titana aufgeregt in der Gondelkabine umher. Chira fing an zu knurren, rückwärts schob sie sich von Victorius weg. Sie legte die Ohren an, fletschte die Zähne und sträubte das Nackenfell.
    Rulfan sprang auf. »Verdammt, Victorius…!«
    »Wir fallen!« Der schwarze Prinz legte die Hände auf seine rosa Scheitel und starrte die Armaturen an. »Mon Dieu! Wir stürzen ab…!«
    ***
    Manchmal beugte sie sich über ihre Knie, drückte die Stirn gegen den kalten Fels und bewegte stumm die Lippen.
    Manchmal streckte sie die Arme gegen die Decke der Kerkergrotte und betete laut und flehend. »Hilf mir zu ertragen, was du mir auferlegt hast, Wudan!«, rief sie dann, oder:
    »Erleuchte meinen Verstand und zeig mir, warum du mir diesen weiten Weg bestimmt hast, diese Gefangenschaft und dieses Leid!«
    Wochen zuvor war sie zu der Überzeugung gelangt, dass Wudan selbst sie hierher an den Uluru und in die Hände der Anangu und des Finders geführt hatte. Doch nun begann diese Überzeugung zu bröckeln.
    Manchmal stand Aruula auf und schlurfte an der Grottenwand entlang, so weit es ihre Fußketten zuließen. In solchen Stunden blieb sie stumm, und nur das Klirren ihrer Ketten hallte dann von den Grottenwänden wider.
    Was hatte sie nicht alles erlebt seit jenem Morgen vor über zwanzig Wintern, als am Strand von Kalskroona fremde Krieger aus dem Nebel gestürmt waren, ihre Gefährten getötet und sie selbst verschleppt hatten! Sechs Winter alt war sie an jenem Tag gewesen, an dem ihre Kindheit so jäh endete. Was hatte sie nicht alles durchstanden und durchkämpft seitdem!
    Tausend Wege war sie gegangen, tausend Feinden hatte sie getrotzt, tausend Mal hatte sie dem Tod ins Auge gesehen!
    Aber all das war besser gewesen, als wochenlang allein und in Ketten in einer Höhle gefangen dahin zu vegetieren. Aruula begann ihr Leben zu hassen.
    Zu Beginn der Nacht, an deren Ende sie ihrem Kind begegnen würde, hockte sie einfach nur mit gekreuzten Beinen auf ihrem Strohsack und lehnte gegen die Grottenwand. Den ganzen Tag hatte sie gebetet, geweint und gehadert. Jetzt war sie verstummt, fühlte sie sich nur noch leer und ausgebrannt.
    Neben der Kerkertür steckte eine Fackel in der Wand. Der Schein ihres Lichts flackerte an der Grottendecke. Vor der Tür hörte sie das Schnarchen eines ihrer Bewacher, die Schritte des zweiten Wächters schlurften auf und ab.
    Sie dachte an die schreckliche Tortur, mit der die Anangu sie ein paar Wochen zuvor gequält hatten. In eine farblose Flüssigkeit hatten die schwarzen Krieger sie getaucht. Ein paar Atemzüge lang schimmerte ihre Haut danach golden, und der Schmerz brannte, als hätte man sie ins Feuer gestoßen.
    Aruula tastete nach dem Tonkrug am Kopfende ihres Lagers. Konnte es denn wirklich wahr sein, dass Wudan einem Menschen derartige Qualen auferlegte? Sie hob den schweren Krug an die Lippen und trank. Das Wasser war kühl und schmeckte nach rostigem Metall.
    Für das Heil der Welt müsse sie dieses Schicksal tragen, hatte ihr Wudan in einer Vision deutlich gemacht; die letzte Waffe im Kampf gegen einen gemeinsamen Feind sei sie.
    Die Erinnerung an das gewaltsame Bad in der rätselhaften Flüssigkeit ließ sie frösteln. Aruula setzte den Krug ab, zog die Beine an und die Schultern hoch. Vergeblich versuchte sie sich gegen die Bilder der Erinnerung zu wehren. Ihre Widerstandskraft war erschöpft.
    Zweifel, Entsetzen und Fassungslosigkeit hatten Aruulas Hirn in einen finsteren Abgrund verwandelt – ein Strudel von Gefühlen, Bildern und Gedanken drehte sich darin und saugte alles Frohe und Hoffnungsvolle in sich hinein.
    Sie rutschte sich auf den Strohsack, barg den Kopf in einem Fell und kauerte sich zusammen. Schlafen und alles vergessen, das wäre die Rettung. Sie schloss die Augen.
    Statt des Schlafes überfielen sie andere, ältere Bilder der Erinnerung: Ein Geschöpf der Daa’muren hatte ihr einst ähnlich heftige Schmerzen zugefügt wie das
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