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198 - Sohn und Dämon

198 - Sohn und Dämon

Titel: 198 - Sohn und Dämon
Autoren: Jo Zybell
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Bursche. Längst hatte Daa’tan sich an seinen neuen Körper gewöhnt. Er genoss den Zuwachs an Kraft und Ausdauer.
    Er hatte die Nacht in einer Art Hängematte aus Ästen, Zweigen und Laub verbracht. Sie hing fünfzig Meter über dem Erdboden in der Krone eines Baumes.
    Daa’tan gürtete sein Schwert auf den Rücken, kroch an den Rand seines Nachtlagers bis zum Stamm und packte zwei starke Äste. So schwang er sich auf einen stammnahen Ast und begann mit dem Abstieg.
    »Ich komme zu dir, Mutter.«
    Seit Wochen schlief er tagsüber und wanderte nachts. Sein Ziel war der Uluru.
    Die letzten Meter sprang er. Eine Staubwolke stieg auf, als er auf dem Boden aufkam. Das Erdreich war trocken hier zwischen halb verdorrten Sträuchern und den wenigen Bäumen. Deren Laub sah gelblich und halb vertrocknet aus, und keiner von ihnen war höher als zwanzig oder dreißig Meter.
    Nur sein Schlafbaum war über siebzig Meter hoch, und nur er trug eine dichte grüne Laubkrone.
    Daa’tan stemmte die Fäuste in die Hüften und blickte hinauf. Ein Eukalyptusbaum. Der Name schien ihm genauso geläufig wie die Lage der Wasserstelle drei oder vier Wegstunden weiter nördlich. Dieses Wissen hatte er nicht gelernt, es war buchstäblich in ihn eingedrungen: in Form von Fadenzellen eines Pilzes, die wiederum Informationen menschlicher Hirne gespeichert hatten. Die Fadenzellen des Pilzes hatte sein halbflorider Organismus vernichtet, ihre Informationen aber aufgenommen. Sie standen seinem Geist so vollständig zur Verfügung, als hätte er sie in bewussten Erfahrungen gesammelt.
    Der Anblick des hohen Stammes, des starken Geästs und des satten Grüns der Laubkrone erfüllte Daa’tan mit Stolz. Als er am Morgen vor diesem Baum gestanden hatte, war der noch klein und halb verdurstet gewesen. Seine Krone war fahl und licht, und nichts unterschied ihn von den anderen jämmerlichen Bäumchen, die in diesem trockenen Hain um ihr Überleben kämpften.
    Wie hatte Daa’tan die Veränderung bewirkt? Auf welche Weise hatte er den pflanzlichen Organismus dazu gebracht, in so kurzer Zeit zu wachsen und seine Wurzeln in ungeahnte Bodentiefen zu strecken, wo noch Grundwasserreserven zu finden waren?
    Daa’tan wusste es selbst nicht. Er hatte einfach nur dagestanden und den armseligen Eukalyptus betrachtet. Er hatte sich einen höheren, kräftigeren, grüneren Baum vorgestellt, einen Baum, der fünfzig Meter über dem Boden ein tragfähiges Geflecht aus Ästen, Zweigen und Laub bildete.
    Während seine Fantasie dieses Bild schuf und sein Wille sich damit voll sog, umarmte er den Stamm des Baumes.
    Als er ihn viele Atemzüge später wieder losließ, war es geschehen. Wahrscheinlich wäre es auch ohne Umarmung geschehen.
    Lange betrachtete Daa’tan den Baum. Ungläubig schüttelte er den Kopf. Noch konnte er seine neu entdeckten Fähigkeiten selbst kaum fassen. Zugleich erfüllten sie ihn mit Freude und Selbstbewusstsein. Als die Krone des Eukalyptus nur noch eine dunkle Silhouette vor dem Sternenhimmel war, wandte er sich ab und marschierte nach Norden in die hereinbrechende Nacht hinein.
    »Mutter, ich komme.«
    Er verließ das Wäldchen und lief in die Steppe hinein. Für seine langen Märsche zog er die Nacht dem Tag vor, denn er wollte nicht zufällig von Spähern der Anangu entdeckt werden.
    Vor einer mentalen Entdeckung schützte er sich, indem er sich mit einer zweiten, künstlichen Aura tarnte. Das hatte Grao’sil’aana ihm beigebracht. Durch diese Tarnung hatten die schwarzen Krieger und das rätselhafte Machtwesen unter dem Uluru sie lange nicht ausspähen können.
    »Grao’sil’aana…«
    Daa’tan seufzte tief. Wo mochte sein Mentor sich aufhalten?
    Ob der Daa’mure schon wieder auf dem Rückweg zum Uluru war? Oder waren er und der Riesenrochen längst in der Umgebung des Felsens gelandet?
    Daa’tan beschleunigte seine Schritte. Mit traumwandlerischer Sicherheit orientierte er sich in der gleichförmigen, nächtlichen Landschaft, die er nie zuvor durchstreift hatte. Das mit den Fadenzellen der Myzelien aufgenommene Wissen lenkte seine Schritte ohne Zutun seines Willens. Es war ihm kaum bewusst, warum er diese und nicht jene Richtung wählte, er tat es einfach.
    Die Sehnsucht nach seiner Mutter und die Hoffnung, Grao’sil’aana wieder zu sehen, trieb ihn an. Und die unterschwellige Furcht, er könnte zu spät kommen.
    Seine Mutter war in Not, das wusste er. Als er sie zuletzt gesehen hatte, trennten die schwarzen Krieger sie gerade mit
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