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1813: Die Völkerschlacht und das Ende der alten Welt (German Edition)

1813: Die Völkerschlacht und das Ende der alten Welt (German Edition)

Titel: 1813: Die Völkerschlacht und das Ende der alten Welt (German Edition)
Autoren: Andreas Platthaus
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aussehen müssen, denn ein Abschuss in flachem Winkel parallel zum Boden wäre unmöglich gewesen. Doch wenn man noch ein kleines Stück weitergeht und am Ende der Schrebergärten dem Knick der Straße nach rechts folgt, bietet sich eine Felderlandschaft mitten im Stadtgebiet dar, die mit ihrem weiten Blick eine Anschauung davon vermittelt, wie fürchterlich leicht dieser Teil des Schlachtfeldes zu übersehen gewesen sein muss. Verstecken konnten sich Soldaten hier nur, wenn sie sich zu Boden warfen oder den Schutz der wenigen Häuser suchten. Deshalb wurden diese so systematisch mit Feuer belegt.
    Um Viertel nach zwei bin ich wieder an der Paunsdorfer Kirche, neben der 1913 ein weiteres der fünf Österreicherdenkmale errichtet wurde. Doch die wahre Erinnerungsstätte liegt nur wenige Meter entfernt in der Häuslergasse, einem schmalen Weg, der in lediglich zehn Metern Abstand parallel zur breiten Theodor-Heuss-Straße verläuft und auf einer Seite noch die geduckten Bauernhäuser mit ihren heruntergezogenen Dächern und kleinen Fenstern aufweist, wie sie hier zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts üblich waren. Sie liegen in kleinen Gärten hinter verwitterten Holzgattern – eine schmale Straße lang sieht Paunsdorf hier aus wie vor hundertneunundneunzig Jahren.
    Nachdem die napoleonischen Truppen aus diesem Dorf vertrieben worden waren, zogen sie sich nach Sellerhausen und Stünz zurück, westlich von Paunsdorf. Im Dreieck zwischen diesen drei Ortschaften ging am 18. Oktober gegen drei Uhr der Großteil der sächsischen Truppen zu den Alliierten über, und daran erinnert auf dem Friedhof von Sellerhausen ein erst 1994 aufgestellter Apelstein, den damals ein Verein der Leipziger Zinnfigurenfreunde finanzierte. Ungewollt ironisch spricht die Aufschrift von der «letzten Stellung», die die dreitausendfünfhundert Mann unter dem sächsischen General von Zeschau hier eingenommen haben sollen – als wären sie standhaft wie Zinnsoldaten geblieben und dann aufgerieben worden. Vom Seitenwechsel ist keine Rede; Zeschaus Division und der kommandierende französische General Reynier sind auf dem Denkmal harmonisch vereint, obwohl der durchaus überlegten und angesichts der Lage konsequenten Entscheidung einiger sächsischer Offiziere bis heute der Makel des Verrats anhängt.
    Den zweiten Friedhof auf dem Weg übers östliche Schlachtfeld erreiche ich um drei Uhr mit dem Bus: den weiter südlich gelegenen Bergfriedhof Mölkau. Es ist der kleinste, den man sich denken kann, und der «Berg» besteht aus einer Erhebung, die man über zwanzig Stufen von der Engelsdorfer Straße aus erreicht; die Hinweise auf den Weg übersieht man leicht. Doch dann öffnet sich hinter einem Holztor ein Gottesacker wie aus dem Bilderbuch der Romantik, mit windschiefen und gestürzten verwitterten Grabsteinen, kleinen Grasflächen und alten Bäumen und mit einem Apelstein, der wiederum General Reynier gilt, der sich nach dem Verlust von Paunsdorf und dem Verlust der sächsischen Soldaten am Nachmittag des 18. Oktober hierher zurückgezogen hatte. Mölkau war auch der Ausgangspunkt eines Gegenangriffs, der aber am heftigen Beschuss durch die preußische Artillerie des Bülowschen Korps scheiterte. Mit der Ortschaft hatte Reynier eine gut zu verteidigende Position bezogen, wie man heute noch erkennen kann: Nicht nur bot die Anhöhe des damals schon bestehenden Bergfriedhofs eine hervorragende Artilleriestellung, auch das winzige Ratsdorf (ein Weiler also, der im Besitz des Leipziger Stadtrats war) selbst, dessen Kern bis heute aus einem langgestreckten Dorfplatz besteht, an dem auch der ehemalige Rittersitz liegt, hätte durch diese Kreisgestalt leicht befestigt und verteidigt werden können. Aber am 18. Oktober sollten Napoleons Truppen sich nicht mehr vor Leipzig einigeln. Der Rückzug war schon seit dem Morgen beschlossene Sache und eingeleitet. So wurde auch Mölkau nach dem Misslingen von Reyniers letzter Offensive am späten Nachmittag weitgehend kampflos geräumt und entging der Zerstörung.
    Am Abend schlug oberhalb des Dorfs – wieder mal auf dem Gelände einer hochgelegenen Windmühle – der russische General von Bennigsen, der auf diesem Teil des Schlachtfelds den Befehl über die alliierten Truppen hatte, seinen Gefechtsstand auf. Von hier aus hat man noch heute einen herrlichen Blick in alle Richtungen, vor hundertneunundneunzig Jahren aber wird man bei einbrechender Dunkelheit vor allem die Feuer gesehen haben, die nördlich und
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