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18

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Titel: 18
Autoren: Markus Luengen
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erkannte, dass er das völlig ernst meinte. Ich bekam ihn dazu, dass er mir inmitten dieser nutzlosen Vulkanmodelle und Landkarten sein Ding näher erklärte. Es lief darauf hinaus, dass er glaubte, dass jeder sein Ding tun müsse, die meisten Leute aber ihr gesamtes Leben damit verbrachten, nach irgendetwas zu suchen, was ihr Ding sein könnte. Irgendwann, meinte er, sagten die Leute dann: „Das ist mein Ding“. Und sie merkten erst zu spät, dass es das nicht gewesen war. Ich fragte ihn, wie er sein Ding gefunden hätte, und er ließ einen bedächtigen Wortschwall los, der größtenteils unverständlich war. Die Umstände würden ihn immer weiter treiben. So drückte er es wohl aus. Es gab immer irgendetwas, das ihn weitertrieb, ihn aufschreckte oder wegscheuchte oder einfach nur störte, so dass er etwas in seinem Leben ändern musste, wovon er noch nie in seinem Leben gedacht hatte, dass es zu ändern war und er sich vielleicht zehn Minuten vorher gar nicht bewusst war, dass es überhaupt existierte. Und wenn er genau die Geschwindigkeit hatte, die er brauchte, um den weiten Himmel zu spüren, dann hatte er sein Ding erreicht. Mit halb herunter gekurbelten Scheiben. Er verbrauchte mehr Worte als auf hundert Partys.
    „Und du hast keine Probleme mehr“ stellte ich fest.
    „Doch“, sagte er. „Das übliche Problem.“
    „Was hilft es dann?“, fragte ich.
    „Du kannst in den Wagen steigen und losfahren.“
    Ich überlegte zu meiner Überraschung laut, dass es bei mir eher umgekehrt war. Ich hatte nie das Gefühl gehabt, dass ich von Umständen getrieben wurde. Ich stellte in jenem Moment fest, dass ich vielmehr ständig aus mir heraus Neues finden wollte, immer nur weg von den jetzigen Umständen, egal wie die neuen Umstände aussahen. Er trank sein Bier aus und ich beeilte mich mit meiner Flasche und wir erledigten die Arbeit ohne weitere Worte. Ich dachte in den nachfolgenden Tagen über dieses Gespräch im Kartenraum nach. Ich dachte auch daran, als ich bald danach auf der Fähre saß, einen Liebesbrief von Josefine und die Anmeldung für eine Schule im Gepäck, die sich Ronald R. Hutchington College nannte. Ich dachte auch noch daran, als ich den ersten Tag zwischen den steinalten Bäumen umherspazierte, die die Schule umgaben.
    Meine Tante war eine ältere Dame, die inzwischen very british geworden war und von der Wirklichkeit nicht viel hielt. Sie sah Spitzendeckchen und Earl Grey Tee von Fortnum & Mason als höchste Erfüllung des Lebens an. Insofern schien sie eine gewisse Geisteshaltung mit meinem Vater zu teilen. Sie teilte im Übrigen auch die Auffassung meines Vaters, dass in einer guten Schuluniform immer gute Menschen heranwachsen. Andererseits bedeutete dies auch, dass für meine Tante immer alles in Ordnung war, solange ich morgens das Hemd in den Hosenbund steckte.
    Der Zug brauchte vom Ort meiner Tante nach London eine gute Stunde, und ich fuhr die Strecke jeden Samstagnachmittag. Ich hörte Musik über die Kopfhörer meines Walkman und übertrug die wichtigsten Clubs in meinen Londoner Stadtplan. Ich dachte an Josefine, wenn ich vor den Clubs stand. Sie schrieb mir kurze und chaotische Briefe, die mit den Wochen immer kürzer und chaotischer wurden und meine Liebe immer mehr wachsen ließen. Alle Briefe endeten damit, dass auch sie unsere Liebe erneuerte. Dadurch, dass jede Körperlichkeit aus unserer Beziehung verbannt worden war, bekamen diese Details eine größere Bedeutung für mich, und ich bekam Angst vor den neuen Entwicklungen, die sich auftuen konnten.
    Natürlich erzählte sie mir von Partys, die sie besuchte und Freunden, die sie wiedergetroffen hatte, aber auch von Nachmittagen, an denen sie einfach am Fenster in ihrem Zimmer saß und hinaus in den kommenden Sommer schaute. Das hatte sie früher nie getan. Ihre Reisepläne bezüglich Londons wurden durch immer neue gute und vernünftige Gründe vereitelt, wobei ich mir etwas weniger Vernunft gewünscht hätte. Mir wurde schmerzlich bewusst, dass ich in London Erfahrungen sammelte, die mich veränderten. Ich sah mir eine Menge Live-Bands an, einige gute, einige sehr gute, und ihre Auftritte waren Klassen besser, als alles, was es außerhalb Londons zu sehen gab. Punkbands wirkten auf mich wie eine Kraft, von deren Existenz man zu träumen gewagt hatte, deren Ankunft man aber nicht mehr erwartet hatte. Und in London hatten sie bereits seit Jahren gespielt. Ich rief Pat an. Er hatte damals diese Wohnung am Bahnhof bekommen. Die
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