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Titel: 18
Autoren: Markus Luengen
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nervös“, sagte ich. „Mach mir doch mal die Flasche auf.“
    Er öffnete sie an der Tischkante und reichte sie mir zurück. Die Stimme des Rektors schallte wieder in ihrem monotonen und ernsten Tonfall aus der Aula zu uns herüber. Wahrscheinlich bedankte er sich artig für die Spenden.
    „Vielleicht bin ich auch gar nicht nervös. Hast du mich schon mal nervös gesehen?“
    Ich nahm einige tiefe Schlucke. Das Bier war zu warm zum Rülpsen.
    „Nein“, sagte ich. „Noch nie. Zu warm übrigens.“
    „Na also.“
    Ich sah hinüber zu den tektonischen Modellen. Das Größte von ihnen stellte einen Schnitt durch einen Vulkankegel dar. Es zeigte ungefähr hundert Erdschichten, die sich alle übereinander legten und in schönen Farbverläufen den Vulkankegel bildeten. Wir hatten das Modell in der sechsten Klasse mit vier Personen zum Lehrerpult geschleppt und am Ende der Stunde wieder zurück in diesen staubigen Raum gebracht. Danach hatte ich den Raum nie mehr betreten. Generationen von Schülern würden dieses Modell in der sechsten Klasse aus diesem Raum in ihre Klassenzimmer schleppen, fünfundvierzig Minuten anglotzen und währenddessen an das Entscheidungsspiel der C-Jugend am Nachmittag denken und eine Stauballergie bekommen, und das Modell dann wieder zurück an seinen Platz schleppen. Das Modell tauchte mit der gleichen Regelmäßigkeit auf wie die Reden des Rektors. Die Reden und die tektonischen Modelle waren die Gesetzmäßigkeiten der Schule. Nur das Publikum wechselte.
    „Du bist bereit?“, fragte Pat. Er balancierte seine Flasche mit beiden Händen auf seinen Knien aus und starrte an einen Punkt an der Wand über der Karte des südlichen Ruhrgebietes.
    „Schätze ja.“
    Er ging hinüber zum Kassettenrecorder. Er drückte zum hundersten Mal die Zählwerktaste auf Null und dann auf Start, die Hand am Lautstärkeregler. Es vergingen zwei Sekunden mit Knistern und dann begann das Gitarrensolo mit Titit titi titi titiiiii und so weiter, der Anfang von Pretty Paracetamol von Fischer Z. Es war eine völlig übersteuert aufgenommene Kassette. Pat hatte gemeint, mit der Übersteuerung käme es viel lauter rüber. Partykeller-Feeling. Pat drückte wieder auf Stopp und die Musik erstarb. Er brauchte ungefähr fünfundzwanzig Versuche, um die Kassette wieder an die optimale Position zu spulen.
    „Du nimmst nachher den Rekorder“, sagte er.
    „Mann“, sagte ich. Den Ablauf hatten wir bis ins Detail geplant.
    „Was hast Du hinten dran gehängt?.“
    „‚Roll over’. Die Ehemaligen werden rasen.“
    „Du findest ‚Roll over’ schnell? Mein Gott, du wirst alt.“
    „Je älter man wird, desto häufiger möchte man ‚Roll over’ hören. Mit fünfzig höre ich nur noch ‚Roll over’.“
    „Mit fünfzig furze ich auf einem Kamm. Ich will einen Kracher, Mann. Fünfhundert Leute warten dort draußen auf uns. Wir müssen nicht nur gut sein, wir müssen richtig gut sein. Was ist mit ‚Sympathy’?“
    „Das erinnert mich an die Sylvesterparty voriges Jahr, als ich aus dem Fenster gekotzt habe.“
    „Ist doch nicht das Schlechteste, das könntest du wiederholen heute Abend, gäbe eine ausgezeichnete Publicity. Wenn ich es mir richtig überlege, solltest du auf jeden Fall aus dem Fenster kotzen. Fünfhundert Leute, sage ich.“
    „Meine Eltern sind draußen, ich habe sie gesehen.“
    „Dein Vater auch?“
    „Auch mein Vater.“
    „Du hast deinen Vater hier. Er wird ausflippen, sobald wir über Peter Maffay hinausgehen.“ Pat stolperte vornübergebeugt durch den Raum und sang: „Mit sieben Krücken musst du geeeeehhhhhhnnnnn!!!!!!“.
    „Er ist über fünfzig und hat noch nie Roll over gehört“, sagte ich.
    „Maffay.“
    „Nein. Mein Vater.“
    „Wir müssen eine härtere Show bieten als er. Als dein Vater.“
    „Und als Maffay.“
    „Machen wir es, Brüder?“, fragte Pat in feierlichem Ton und stand auf, hielt sich die Bierflasche an die Brust und sang mit tiefer klarer Stimme den Refrain eines keltischen oder irischen Volksliedes, das er mal in einer Kneipe in Dublin gehört hatte, als er drei Wochen mit dem Fahrrad in Irland unterwegs gewesen war. Er hatte sich eine Lungenentzündung auf dieser Regeninsel geholt, doch das Lied hatte er trotzdem in guter Erinnerung behalten.
    Es war eine langsame und beeindruckende Melodie, die für ihn zu einer Art Schlachtruf geworden war, doch als er die Hälfte hinter sich gebracht hatte, stoppte die Rede des Rektors plötzlich, und es war
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