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164 - Der vielarmige Tod

164 - Der vielarmige Tod

Titel: 164 - Der vielarmige Tod
Autoren: Ronald M. Hahn
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den Rand des Lochs und tastete nach den Steigeisen. Kühle Luft kam von unten herauf.
    Wohin führte dieser Weg wohl? Hatte er nicht mal was in der Bibliothek einer reichen Reederin in Tscherskij darüber gelesen? Ja, richtig, im Altertum hatte es unter allen Großstädten so genannte Abwasserkanäle gegeben – angefüllt mit monströsen Ungeheuern, giftigen Chemikalien und radioaktivem Abfall…
    Als nun auch noch eine Wolke den Mond verdeckte und es stockdunkel in dem Schacht wurde, sank Kapitän Pofskis Mut erneut. Trotzdem wartete er noch eine halbe Ewigkeit – zumindest kam ihm die knappe Minute so vor –, bevor er schnellstens wieder nach oben kletterte.
    Ja, wenn er seine Laterne aus dem Ballonkorb mitgenommen hätte, dann wäre an Aufgeben nicht zu denken gewesen. Aber so…?
    Jetzt die Laterne zu holen, den Docht anzuzünden und sich wieder in den Schacht hinab zu begeben, würde viel zu lange dauern. Bis dahin war die Chance, Aruula noch zu finden, bis ins Unendliche geschrumpft.
    Alexander Pofski stützte seinen Kopf in beide Hände und stieß einen langen, klagenden Seufzer aus. Er musste es sich eingestehen: Er hatte versagt…
    ***
    Als die Sonne Pofskis Nase kitzelte und ein heftiges Niesen ihn schüttelte, wurde ihm bewusst, dass er neben dem Loch eingeschlafen war.
    Es war hell und der Himmel fast gänzlich zugezogen wie stets in den letzten Monaten. Die Blumen dufteten so anregend, dass seine Magennerven vibrierten. Als ihm wieder einfiel, was am Abend zuvor passiert war, sprang Kapitän Pofski hoch und warf einen Blick in die Tiefe.
    Aruula…
    Der Russe reckte sich. Alle Knochen taten ihm weh. Als er zum Ballon zurückkehrte, sah er schon aus der Ferne, was dort los war: Ein halbes Dutzend struppiger Vögel mit nackten Hälsen hatten den zurückgelassenen Leichnam des Entführers in Einzelteile zerrissen und hoben, als sie den Aeronauten kommen sahen, in sichere Gefilde ab. Die Jagdbeute hatten sie sich natürlich schon als Vorspeise einverleibt.
    Pofski drohte den Aasfressern mit der Flinte, aber sie zollten seinem knurrenden Magen keinen Respekt, sondern zogen höhnisch krächzend von dannen.
    Missmutig kletterte Pofski in den Korb und zündete im Ofen ein Feuer an. Während es sich aufbaute, genehmigte er sich einen Kanten altbackenes Brot und einen Schluck Wasser.
    Nach dem Frühstück klemmte er sich – dies hatte seit seinem vierzehnten Lebensjahr Tradition ein Machorkastäbchen zwischen die Zähne und paffte blaugrauen Qualm. Natürlich wusste er, dass der Qualm seine Kleider und sein Haar verpestete und die Frauen davon abhielt, seine Nähe zu suchen, aber er kam von der Sucht nun mal nicht los.
    Schicksal…
    Eine halbe Stunde später hatte der Rüssel den Ballon so weit mit Hitze gefüllt, dass er vom Boden abhob.
    Kapitän Pofski bereitete sich gerade auf einen baldigen Start vor, als er zwischen den Tempelruinen eine Gestalt erspähte.
    Der Mann hatte blauschwarzes Haar, goldbraune Haut und ein ausgesprochen hübsches Gesicht.
    An seinen Ohren baumelten goldene Ohrringe. Man sah auf den ersten Blick, dass der Kerl vor irgendetwas auf der Flucht wie vor sämtlichen fruchtbaren Weibern Deelis war, denn sein Blick wirkte gehetzt und auf seiner Stirn stand der Schweiß.
    »Warte auf mich!«, rief er Kapitän Pofski in einem östlichen Dialekt der Wandernden Völker zu.
    Der Russe nahm sicherheitshalber sein Gewehr zur Hand.
    »Was willst du?«, erwiderte er und versuchte zu erkennen, ob der Ankömmling mit einer Armbrust oder einem Bogen ausgerüstet war. Gegen Pfeile waren Ballons nämlich allergisch.
    »Ich muss… mit dir… reden, Herr… der Lüfte!«, keuchte der Mann. Pofski sah, dass er einen Tornister auf dem Rücken und am Gürtel eine Scheide mit einem Krummsäbel und zwei Dolche trug. Seine Kleidung – Hemd und Hosen – war von schlichter Beschaffenheit, jedoch sauber.
    Hellbraune Stulpenstiefel umhüllten seine Beine. Seine Zähne waren beneidenswert gesund. Zumindest äußerlich handelte es sich nicht um einen gemeinen Schurken; die achteten selten auf ihr Äußeres.
    Pofski nickte und senkte die Flinte leicht. »Dann beeil dich, ich hebe gleich ab!«
    Der Fremde kam schnaufend heran und blieb zwei Meter vor dem nun bereits ruckenden Korb stehen.
    »Mein Name ist Karan Khan«, stellte er sich mit einer höflichen Verbeugung vor. »Ich habe euch gestern in den Abendstunden mit diesem wundersamen Fahrzeug über den Marktplatz fliegen sehen…«
    »Fahren sehen«,
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