1623 - Der Zombie-Rabe
Er ging über den Boden des kleinen Tals hinweg, als hätte er nie etwas anderes getan. Es war ihm anzusehen, dass er sich wohl fühlte. Ein sehender Mensch hätte sich nicht sicherer bewegen können.
Er ging um den Raben herum. Und dabei blieb es nicht. Er streckte seine Arme aus und ließ die Hände über den Steinkörper wandern. Es waren Bewegungen, die wie ein Liebkosen aussahen, und das war es auch. Er streichelte die Figur, als wäre sie lebendig.
Urs Hoffmann und Mario Montini schauten zu. Wohl war ihnen dabei nicht. Sie begriffen den Vorgang nicht. Was brachte Fabricius dazu, dieses Denkmal zu streicheln, als wäre es ein Tier, das lebt?
»Verstehst du das, Urs?«
»Nein, aber wir werden es bald verstehen, obwohl ich das nicht unbedingt will. Das alles hier passt mir nicht mehr. Ich habe allmählich den Eindruck, dass man uns benutzt und dass wir jetzt die andere Seite unseres Freundes erleben.«
»Und welche ist das?«
»Vielleicht eine dunkle Seite.«
Mario hob die Schultern. »Ja, das kann sein. Wie habe ich das noch mal im Faust gelesen? Zwei Seelen wohnen, ach, in meiner Brust. So ist das wohl auch bei Fabricius, und wir lernen jetzt die zweite Seele kennen oder wie auch immer.«
»Mag sein.«
»Mehr sagst du nicht?«
»Was soll ich denn noch sagen?«
Mario ballte für einen Moment die Hände. »Das hier ist keine Spinnerei eines älteren Menschen mehr. Ich fühle mich zwar nicht bedroht, aber das alles ist doch ziemlich ungewöhnlich.«
»Der Berg heißt Corvatsch. Vergiss das nicht.«
»Ja, ich weiß. Aber müssen wir deshalb vor einem derartigen Denkmal stehen?«
Mario schüttelte den Kopf. »Das macht mir irgendwie Angst.«
»Ach. Und warum?«
Mario senkte seine Stimme. »Hast du dir schon mal die Augen angesehen?«
»Nicht genau.«
»Aber ich, Urs, aber ich.« Mario schnaufte. »Sie haben eine so komische Farbe. Eigentlich haben Raben doch auch schwarze Augen - oder?«
»Ich glaube.«
»Seine sind hell. Nicht direkt weiß, aber schon hell. Das ist nicht nur komisch, das ist schon nahezu unheimlich.«
»Wenn du das sagst.«
»Ich kann das nicht mehr so locker sehen!«, zischte Mario. »Wir erleben hier etwas, das es eigentlich nicht geben kann.«
»Klar.«
»Dann sag auch etwas, Urs!«
Das wollte er, aber dazu ließ Fabricius ihn nicht kommen. Er war zweimal um den Raben herumgegangen. Er hatte ihn beide Male gestreichelt und dabei immer gelächelt. Das Lächeln war auch jetzt nicht von seinen Lippen verschwunden, als er vor den beiden Freunden stehen blieb und sie aus seinen toten Augen anschaute.
Waren sie wirklich tot?
Hatten sie sich nicht verändert?
Urs und Mario sprachen nicht darüber, aber sie verfolgten beide den gleichen Gedanken, und es sah tatsächlich so aus, als hätte sich in den Augen des Blinden ein leichtes Strahlen festgesetzt.
»Nun, wie fühlt ihr euch, meine Freunde?«
Urs sprach nicht. Mario gab die Antwort. »Ich weiß nicht so recht. Es ist schwer, dies zu begreifen.«
»Das kann ich mir denken, meine Freunde. Ihr steht hier und erlebt etwas ganz Wunderbares. Diese Mulde hier ist so etwas wie ein Tor zu einer anderen Welt.«
»Geht das auch genauer?«
»Ja, Mario. Es ist das Tor zum Jenseits.«
Hätten sie sich in einer anderen Umgebung befunden, so hätte Mario nur gelacht. Und sein Freund Urs sicherlich mit. So aber war ihnen bei aller Freundschaft nicht nach einem Gelächter zumute. Sie konnten mit der Antwort nichts anfangen. So etwas sagte kein normaler Mensch. Das war einfach nur verrückt. Sie hatten Fabricius zwar als einen Sonderling kennengelernt, er hatte ihnen auch viel beigebracht, doch eine derartige Antwort konnten sie nicht akzeptieren.
»Was soll das denn?«
»Glaubst du mir nicht, Mario?«
»Nein.«
Fabricius hob den rechten Arm. »Schau mal in die Höhe und sag mir, was du dort siehst.«
»Raben!«
»Ja, das stimmt. Aber es sind besondere Tiere. Sie sehen nur normal aus, sind es aber nicht, denn sie kommen aus einer ganz anderen Welt. Aus dem Jenseits, aus ihrem Jenseits. Den Ausdruck gebrauche ich. Manche sprechen auch von einer anderen Dimension. Im Prinzip bleibt es gleich. Sie haben die Totenwelt gesehen und können Botschaften mitbringen, wenn sie zurückkehren.«
»Nein!«
»Doch, Mario. Du solltest deine Gedanken öffnen und dich damit vertraut machen, dass es außer der unseren Welt auch noch andere gibt. Und nicht nur wenige.«
Mario Montini trat einen Schritt zur Seite und damit weg von dem blinden
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