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135 - In der Falle

135 - In der Falle

Titel: 135 - In der Falle
Autoren: Jo Zybell
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zerrte sie den toten Polizisten von der Leiche des Bärtigen herunter, zog ihn aus dem Wagen und kramte den Handschellenschlüssel aus seiner Jackentasche. Die Hände endlich wieder frei, wollte sie ihn ausziehen, doch von fern näherte sich Sirenengeheul. Sie starrte die Straße hinauf und hinunter. Links sah sie Blaulicht zucken.
    Sie zog den zweiten Toten von der Rückbank, kippte den Dritten vom Fahrersitz auf die Straße und setzte sich selbst ans Steuer. Der Motor lief noch, die Reifen quietschten, als der Wagen anfuhr. Sie streifte zwei parkende Fahrzeuge, überholte ein drittes, silbergraues, in dem ein Mann am Steuer saß, und raste schließlich die Straße hinunter.
    Wann habe ich zuletzt hinter einem Lenkrad gesessen? Wo habe ich gelernt, so einen Wagen zu steuern? Sie grübelte, bis sie glaubte, Knoten im Hirn zu haben. Konnte ein Gedächtnis wirklich so leer sein wie ihres?
    Sie wunderte sich, weil das Fahrzeug wie von selbst fuhr. Es wich nach rechts aus, wenn ein Wagen auf der Gegenfahrbahn den Mittelstreifen überfuhr, es wich nach links aus, wenn sie der Kolonne parkender Fahrzeuge zu nahe kam, es drosselte das Tempo, wenn ein Wagen vor ihr abbremste.
    Lasersensoren! Ob auch die Geschwindigkeit automatisch geregelt wurde? Sie ließ das Steuer los, lehnte sich zurück, verschränkte die Arme vor der Brust. Tatsächlich! Das Fahrzeug fuhr ohne ihr Zutun!
    Ihr Blick glitt über die Armaturen. Eine Uhr – 2:46 Uhr.
    Dahinter ein Datum: 30. März 2010. Sie kniff die Augen zusammen und fixierte die digitale Zeitangabe, als müsste sie ein wildes Tier hypnotisieren. 30. März 2010? Bitte? War das ein Traum, durch den sie da fuhr? Sie grübelte, rechnete, versuchte sich zu erinnern. Hatte ihr jemand Drogen ins Wasser geschüttet? Waren durch ein kosmisches Ereignis die Naturgesetze aufgehoben worden?
    Blaulichtgeflacker riss sie aus ihren Gedanken. Eine Straßensperre. Mit schlafwandlerischer Sicherheit schaltete sie den Autopiloten aus und trat aufs Gaspedal. Was ist eigentlich ein Gaspedal, und was genau bewirkt ein Druck darauf? Ihr blieb keine Zeit, sich über die Antworten auf diese Fragen Gedanken zu machen – der Streifenwagen machte einen Satz nach vorn, und plötzlich schien die Straßensperre zum Greifen nahe. Lichter blinkten quer über der Fahrbahn, Blaulichter rotierten auf Wagendächern, jemand winkte, und schon krachte und splitterte es irgendwo, und sie war durch.
    Ihre Fußsohle klebte am Gaspedal.
    Hausfassaden, Neonreklamen, Straßenbeleuchtung, Scheinwerferkegel – alles rauschte an ihr vorbei. Es war, als würde der Film eines zweiten, anderen Lebens auf der Windschutzscheibe ablaufen.
    Dann tauchte wieder eine Straßensperre vor ihr auf, und wieder brach sie durch. Ihr Fahrzeug kam ins Schleudern, drehte sich um seine eigene Achse, blieb stehen. Nichts ging mehr. Sie stieg aus.
    Irgendjemand schrie. Stehen bleiben und Ähnliches. Sie spurtete los, bog in eine Seitenstraße, rannte weiter. Sie wusste nicht, wohin sie wollte, nur dass sie Kleider brauchte. Immer weiter lief sie also, vorbei an einem Pulk junger Menschen, die auf dem Beckenrand eines Springbrunnens hockten, vorbei an Bars und Treppenabgängen zu U-Bahnstationen, vorbei an Taxiständen und Imbissbuden, vorbei an torkelnden Nachtschwärmern und schmusenden Liebespaaren, an endlosen Hausfassaden und sich aneinander reihenden Schaufenstern.
    Eines der Fenster mit Figuren in Anzügen, Kleidern und Mänteln fiel ihr auf. Sie blieb stehen, sah genauer hin: Elle et Lui, ein Modehaus. Kleider. Etwas um ihre Nacktheit zu bedecken. Hatte sie nicht genau so etwas gesucht? Sirenen heulten durch die Nacht. Sie trat von dem Schaufenster zurück, ging bis zur Mitte der Straße, nahm Anlauf und warf sich gegen die Scheibe. Glas splitterte; über Scherben und Schaufensterpuppen rollte sie sich ab. Ihre Hand berührte einen Mantel. »Endlich Kleider…«
    ***
    Berlin, Mitte Februar 2521
    Die Sonne spiegelte sich in den Pfützen unten auf der breiten Straße und in den Gassen. Milder Wind blies von Süden her. Drei Nächte zuvor hatte Tauwetter eingesetzt. Sie hatten die Bauarbeiten an der neuen Ostmauer wieder aufgenommen.
    Das Palastdach glänzte vor Feuchtigkeit. Jenny hörte das Wasser in den Regenrinnen plätschern, und vom Sims ihres kleinen Gitterfensters tropfte es in ihren Kerker.
    Sie stand am Fenster. Mit finsterer Miene starrte sie in die Ruinen vor dem Winterwald: Wieder rollte ein Konvoi in die Siedlung hinein. Ein ziemlich
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