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128 - Der Schläfer

128 - Der Schläfer

Titel: 128 - Der Schläfer
Autoren: Michael M. Thurner
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von ›euch‹, aber niemals von dir selbst, Rulfan. Was ist deine Rolle in diesem Spiel?«
    »Ich weiß es nicht, verdammt noch mal!«, schnauzte er die Frau an.
    Er ignorierte die verwunderten Blicke der anderen und wandte sich ab. Zum vielleicht zwanzigsten Mal am heutigen Tag tastete er mit der Linken nach den feinen Haaren hinter Wulfs Ohren, die er so gerne streichelte – und griff ins Leere.
    Der Lupa war nicht da. Er war weg. Ja, er war in Coellen geblieben.
    Oder?
    Niemand war da, der ihn stützte. Niemand war da, der ihm half.
    Er wurde noch wahnsinnig.
    ***
    Sie standen plötzlich vor Rulfan: Grandlord Paazival, Druud Alizan und ein halbes Dutzend Biglords. Alle trugen sie lange Rauschebärte, die Gesichter gekalkt, die Oberkörper mit hellem Kreidestein rituell bemalt. Manche hatten die Zähne angespitzt, viele trugen getrocknete Innereien getöteter Feinde aufgefädelt auf einer Lederkette um den Wanst, alle stanken sie erbärmlich aus der Nähe und ernährten ganze Läusekolonien mit ihrem Blut.
    Im technokratischen Drang der Bunkermenschen, allem und jedem einen konkreten Namen geben zu müssen, hießen die Männer und Frauen »domestizierte Barbaren«.
    »Haujaduun, cant?«, begrüßte ihn Paazival grob und nahm ihn überschwänglich in die fleischigen Arme.
    »Aimfaain«, antwortete der Albino schwach und ohne viel Nachdruck.
    Der Grandlord ließ ihn abrupt los – nein: er stieß ihn geradezu von sich! – und sagte misstrauisch: »Du smellst so faain!« Er wandte sich an den Druud und befahl: »Smell!«
    Was war los? Was hatte er falsch gemacht? Rulfan sah sich rasch um und befahl den Community-Leuten mit einer beschwichtigenden Handbewegung, die Finger von den Waffen zu lassen. Die Lage war angespannt, doch noch glaubte er, alles unter Kontrolle zu haben.
    Seit Monaten hatten der Grandlord und seine Meute mit ihnen zusammen gearbeitet. Es hatte keinerlei Grund für irgendwelche Animositäten gegeben. Nun ja, mit Ausnahme des Begräbnisses für den alten dürren Alex McNeish. Manche Teile des Stammes Paazivals hatten nicht verstanden, dass man den Bunkermenschen einäschern wollte, statt ihm einen passenden Platz in der Heldenrunde zuzuweisen. Sprich: ihre Mägen mit ihm zu füllen.
    Alizan kam näher. Schnüffelnd, mit geröteten Augen und langen Rotzbahnen im ungepflegten Bart. »Rrrait!«, sagte er mit tiefer Stimme. »Er smellt!«
    Die Barbaren wurden noch unruhiger. Ringsumher raschelte es im Gebüsch. Rulfan spürte, dass Dutzende weitere Krieger, Weiber und Kinder versteckt im Wald warteten. Eine falsche Bewegung von irgendeinem der Anwesenden – und es würde zur Katastrophe kommen.
    Der Druud drehte sich zwei Mal im Kreis, streute weißes Pulver aus einem Beutel in das Moos und begann leise und monoton zu lamentieren. Abrupt blieb Alizan schließlich stehen und murmelte vorwurfsvoll: »Clieen!«
    Rulfan verstand nicht. Cliien? Sauber? Moment… war da nicht irgendwas mit einem alten Brauch gewesen?
    Ach du meine Güte – er hatte sich ja vor wenigen Stunden gewaschen, und das auch noch mit einem Stück Seife! Das war nun tatsächlich etwas, das einen gestandenen postapokalyptischen Standard-Barbaren bis ins Innerste seiner Seele erschüttern konnte.
    Nur einmal in seinem Leben, sozusagen als quälender Initiationsritus, wurden pubertierende Nachwuchsbarbaren in die Themse geschmissen und unter großem Gelächter der anwesenden Weiber mit Tierfetten, Talg, Pottasche und Sand gerieben und geschrubbt und so auf ihre Entjungferung vorbereitet. Keiner, egal ob Männlein oder Weiblein, entging diesem schauderhaften Schicksal. Es war ein demütigender, ein ewig nachhallender Schmerz für die Angehörigen eines Kriegervolkes. Die Barbaren kannten den Geruch der Sauberkeit. Jeder einzelne von ihnen, vom jungen Krieger bis zur Greisin, erinnerte sich an ihn, denn er war unmittelbar mit der Frau- oder Mannwerdungverbunden. Und niemand würde dieses Ritual freiwillig wiederholen.
    Der Grandlord, der Druud und alle anderen – sie dachten, dass er erst vor kurzem seine Unschuld verloren hatte! Auch wenn sie ihn bereits mit anderen Frauen gesehen hatten – sie vermuteten, dass er im reifen Alter von 54 Jahren entjungfert worden war.
    Rulfan seufzte. Es würde einiger sehr wort- und gestenreicher Erklärungen bedürfen, um dieses Missverständnis aufzuklären.
    ***
    Eine Stunde später
    »Nun – was habt ihr zu berichten?«, fragte Rulfan.
    Paazival und die Seinen hatten sich nur allmählich
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