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120, rue de la Gare

120, rue de la Gare

Titel: 120, rue de la Gare
Autoren: Léo Malet
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gefangengehalten wurde. In der Nähe eines anderen Wäldchens ließen uns die Bewacher plötzlich anhalten. Ein Mann mit blutverschmiertem Gesicht kroch über den Weg. Das war La Globule. Hatte sich wohl irgendwo die Füße verbrannt und konnte nicht mehr gehen. Und die Augen hat er verdreht... Ich kann dir sagen... Und was er anhatte... „ Er lachte und verzog seinen Mund noch mehr. „Hatte sich anscheinend wohl Zivilkleidung besorgt, um den Deutschen zu entwischen. War ihm aber nur halb gelungen: Das Wichtigste fehlte, Hose und Jacke. Nur Hemd und Krawatte waren zivil, darüber trug er seine Uniform. Ich sag dir: ein Verrückter. Oder ein ganz gerissener Kerl. Aber jedenfalls konnte er keinen Fuß mehr vor den anderen setzen. Unsere Wache hat die zwei Kräftigsten von uns ausgewählt, und die mußten ihn schleppen. Und so sind wir zum Bauernhof marschiert und später dann ins Lager. Da wurden ihm die Füße verarztet... ‘n ziemlicher Brei war das... und die Kopfwunde. Er ist dann bei uns geblieben. Konnten uns nicht über ihn beklagen. Er war ruhig, höflich, sagte immer, er könne sich an nichts erinnern, was vor seiner Gefangenen... Gefangen... Mein Gott, was für’n Wort...“
    „Gefangennahme?“
    „Genau, Gefangennahme... Also, was vor seiner Gefangennahme passiert war. Wie findest du das? Na ja, jedem seine Chance...“
    „Er gehört also nicht zum 6. Pioniertrupp?“
    „Nein. Ich sag ja, den Mantel hat er im Lager von Arvoures gekriegt. Nebenbei gesagt, in dem Lager waren viele von uns, und keiner kannte ihn...“ Er zwinkerte mir zu. „Wie gesagt, ein schwieriger Fall. Das sagt dir Bébert, und Bébert weiß Bescheid!“
    „Wie kommt es, daß er’s in diesem Zustand bis hierher geschafft hat?“
    Durch ein tiefes, langgezogenes „Ach!“ gab mir Bébert zu verstehen, daß er damit überfragt war.
    Ich stand auf, schob meine Hand unter den Arm des Mannes, der seinen Namen nicht mehr wußte. Es fiel mir schwer, in ihm einen Simulanten zu sehen. Der Aufnahmechef hörte dem Dolmetscher aufmerksam zu, dann musterte er durch sein Monokel den Unglücklichen.
    „Bringen Sie ihn zur Beobachtung ins Lazarett“, befahl er. „Die Ärzte werden feststellen, ob er uns täuschen will.“
    Ich schob den Mann zu meinem Tisch, wo ich sein rosafarbenes Formular ausfüllte. Es dauerte nicht lange. Die Angaben waren denkbar knapp: „X... Krank. Gedächtnisschwund.“ Aber dafür besaß der Mann jetzt einen Personenstand, eine Gefangenennummer. Er war in Zukunft für alle die 60 202.

    * * *

    An die Baracke 10-A gelehnt, stand ich auf dem glitschigen Boden und rauchte gedankenversunken meine Pfeife. Der lange Hauptweg wurde in der Mitte durch holprige, schiefe Eisenbahngleise geteilt. Gruppen von Männern schlenderten umher, wobei sie versuchten, den schlammigen Wasserlachen auszuweichen. Vor den Baracken lehnten die Gefangenen an den Türrahmen oder saßen auf den Stufen, rauchten und redeten miteinander, die Hände am Koppel oder tief in den Taschen vergraben. Vor den Fenstern trocknete Wäsche im Wind. Aus einer der Baracken drangen die klagenden Töne einer Mundharmonika. In der heiteren Sonne dieses Sonntagmorgens hätte man das Ganze für eine Goldgräberstadt halten können.
    Der Arzt hatte seine Nachtschicht beendet und trat aus der Krankenstation. Ein gutmütiger Wachposten begleitete ihn zum Lazarett, das sich zwei Kilometer entfernt vom Lager befand. Nach Meinung seiner Kollegen war der Doktor ein ausgezeichneter Chirurg. Als Lagerarzt jedoch war er — vielleicht gerade deshalb — , wie alle behaupteten, eine Flasche.
    Als er an mir vorbeikam, blieb er stehen.
    „Mein Name ist Hubert Dorcières“, stellte er sich vor, so als befinde er sich in einem Salon des nobelsten Pariser Stadtviertels. „Sie sind bestimmt Nestor Burma. Vor etwas mehr als einem Jahr haben Sie meiner Schwester aus einer heiklen Situation geholfen... Man kann sagen, Sie haben ihre Ehre wiederhergestellt. Erinnern Sie sich?“
    Ich erinnerte mich sehr genau daran. Und ich erinnerte mich ebenfalls daran, daß ich seit meiner Ankunft im Stalag mehrmals einen Arzt hatte „konsultieren“ müssen und dabei auch von diesem Dorcières untersucht worden war. Er hatte nichts weiter getan, als mir die üblichen Pillen zu verschreiben, ohne zu bemerken, daß wir alte Bekannte waren. Dabei stand mein Name voll ausgeschrieben auf dem Krankenblatt.
    Ich dagegen hatte ihn schon beim ersten Mal wiedererkannt, trotz des Bartes. Als seine
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